Freitag, 3. Juni 2005
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synapse, 18:33h
Geschieden
Merkel wird nun stets als geschieden bezeichnet, weil sie in zweiter Ehe lebt. Natürlich Unsinn. Sie ist verheiratet.
So etwas wird auch immer nur bei Frauen geschrieben.
Schröder: Wie oft geschieden? Noch nie gehört.
Fischer: Wie oft geschieden? Noch nie gehört.
Nur mal so - eine Kleinigkeit.
Und die Ironie der Geschichte ist doch, daß ausgerechnet die CDU die erste Frau als Spitzenkandidaten bringt. Noch nicht einmal die Grünen bringen eine Frau, sondern nur Fischer. Alice Schwarzer ist begeistert - auch ein Novum.
Und wie es aussieht, wird Merkel die erste Kanzlerin.
( zu Merkel auch hier etwas Kurioses: http://chuzpe.blogger.de/stories/283248/#comments )
4.6., 11:49
Freundschaften
"Die Feinde meiner Feinde sind auch meine Feinde." (Rainald Goetz)
http://my.fotolog.net/edit_photo.html?pid=10524081
Merkel wird nun stets als geschieden bezeichnet, weil sie in zweiter Ehe lebt. Natürlich Unsinn. Sie ist verheiratet.
So etwas wird auch immer nur bei Frauen geschrieben.
Schröder: Wie oft geschieden? Noch nie gehört.
Fischer: Wie oft geschieden? Noch nie gehört.
Nur mal so - eine Kleinigkeit.
Und die Ironie der Geschichte ist doch, daß ausgerechnet die CDU die erste Frau als Spitzenkandidaten bringt. Noch nicht einmal die Grünen bringen eine Frau, sondern nur Fischer. Alice Schwarzer ist begeistert - auch ein Novum.
Und wie es aussieht, wird Merkel die erste Kanzlerin.
( zu Merkel auch hier etwas Kurioses: http://chuzpe.blogger.de/stories/283248/#comments )
4.6., 11:49
Freundschaften
"Die Feinde meiner Feinde sind auch meine Feinde." (Rainald Goetz)
http://my.fotolog.net/edit_photo.html?pid=10524081
... comment
synapse,
Sonntag, 5. Juni 2005, 19:19
Ihr wißt gar nicht, wie viele sozialistische Elemente ihr habt
Ihr wißt gar nicht, wie viele sozialistische Elemente ihr habt
Politische Stärke aus dem Pfarrhaus: Angela Merkel spricht über den 9. November 1989 und die Zukunft Deutschlands
Frau Merkel, was haben Sie am 9.November 1989 gemacht?
Am Tag arbeitete ich in der Akademie der Wissenschaften in Adlershof. Am Abend bin ich, wie ich es donnerstags regelmäßig machte, in die Sauna im Thälmannpark gegangen. Vorher hatte ich noch im Fernsehen die Pressekonferenz mit Günter Schabowski gesehen, als er den berühmten kryptischen Zettel zur Reisefreiheit verlas. Ich rief schnell noch meine Mutter an, weil wir eine stehende Wendung hatten: Wir gehen Austern essen zu Kempinski, wenn die Mauer fällt - was wir bis heute noch nicht gemacht haben. Ich sagte jedenfalls, sie solle ihr Westgeld zusammenkramen, es könne bald soweit sein. Als ich zurückkam, sah ich, daß Menschen die Bornholmer Straße hinunterströmten, ich schloß mich dem Strom an und bin dann am 9. November zum ersten Mal ohne Kontrolle über die Grenze gegangen.
War Ihnen in diesem Augenblick schon klar, daß das das Ende der DDR bedeutete?
An dem Abend war ich erst mal beeindruckt und ergriffen. Ich fuhr am nächsten Morgen wie immer von der Schönhauser Allee nach Adlershof zur Arbeit. Dort waren viele vom Wachregiment Felix Dzierzynski, die ja für die Grenzbewachung verantwortlich waren, die fuhren am Freitag ins Wochenende. Sie unterhielten sich darüber, daß das Lebenswerk ihrer Vorgesetzten, der Offiziere der Nationalen Volksarmee, sich in dieser Nacht erledigt hätte. Und da ist mir klargeworden, daß jetzt etwas im Gange ist, was wahrscheinlich das Ende der DDR bedeutet.
Wollten Sie damals schon in die Politik gehen?
In diesen ersten Tagen noch nicht. Aber dann wurde klar, es werden neue Leute gebraucht. Ich wollte in eine der neuen Parteien. Ich dachte mir auch, daß diese Gruppen eine großte Kraft entfalten würden. So kam ich zum "Demokratischen Aufbruch".
Was ist Ihre erste bewußte politische Erinnerung?
Mit Sicherheit der Mauerbau und die Tage davor. Meine Großmutter hatte damals einen runden Geburtstag. Sie hatte sich gewünscht, daß mein Vater sie im Sommer mit einem gemieteten VW Käfer durch Bayern fährt. Wir waren als Familie viele hundert Kilometer gefahren, kamen Anfang August zurück und fuhren zum Abschluß der Reise zu der anderen Großmutter nach Pankow. Ich weiß noch, wie ich mit ihr über die Wollankstraße ging, weil sie im Westen noch einmal Zigaretten kaufen wollte. Mir fiel dabei auf, daß sich mein Vater und meine Großmutter so traurig verabschiedeten, weil sie ahnten, in Berlin wird etwas passieren, denn in den Wäldern lag überall Stacheldraht. Den hatten wir bei unserer Rückfahrt gesehen. Der 13. August war ein Sonntag, und mein Vater hatte als Pfarrer einen Gottesdienst zu feiern. Alle haben geweint.
Sie sind im Westen, in Hamburg, geboren, und Ihr Vater wechselte als Pfarrer in die DDR.
Er kam aus Pankow und hatte immer die Absicht, als Pfarrer wieder in die Sowjetische Besatzungszone zurückzugehen. Solche Entscheidungen waren gar nicht so selten, wie manche denken, denn diese Generation hatte den Eindruck, auch in der Sowjetischen Besatzungszone müsse die Kirche ein vernünftiges Fundament haben. Man konnte besser im Westen studieren, das hat er dann auch getan in Bielefeld und in Hamburg als Vikar, wo er meine Mutter kennenlernte, und dort bin ich noch geboren worden. Ich bin dann aber im Alter von sechs Wochen in die DDR gekommen.
Hatte er damals auch eine gewisse Sympathie für den Sozialismus?
Es gab verschiedene Phasen. Er hat mit einer sehr langen Teilung Deutschlands gerechnet, nicht allerdings mit der Wiedervereinigung zu Lebzeiten. Er sagte, es habe keinen Sinn, immer so zu tun, als wären wir eine Kirche mit einer Struktur. Er arbeitete im Weißenseer Arbeitskreis mit, der eher zum linken Spektrum gehörte, erlebte dann aber auch viele Enttäuschungen. Spätestens 1968 war der Wendepunkt, beim Einmarsch der Russen in der Tschechoslowakei.
Wie haben Sie als Kind die DDR und die Mauer erlebt?
Ein Kinderleben besteht ja nicht nur aus Politik und in diesem unpolitischen Sinn hatte ich einfach ein sehr schönes Leben. Ich bin in einer wunderschönen Landschaft aufgewachsen, in der Uckermark. Ich hatte Eltern, die uns mit viel Liebe erzogen haben und uns eine breite Bildung zugänglich machten - ich hatte eine schöne Kindheit. Wir haben im Kirchenchor gesungen. Die Kirche war eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Ich habe dann sehr früh gelernt, daß man im Freundeskreis alles besprechen kann, aber draußen eben vorsichtig ist. Aber das hat mich nicht so beschwert. Meine Mutter hat sich jedoch gefragt, ob es ihre Kinder schlechter als die ihrer Schwester im Westen hätten. Meine Tante kam jeden Sommer mit ihren Kindern zu uns nach Templin, und da habe ich, weil ich ebendiese Sorgen meiner Mutter kannte, immer überprüft, wie es meinen Kusinen geht und wie es mir geht. Ich bin dann zu einem recht ausgewogenen Bild gekommen. Meine Kusinen genossen bei uns die Seen, aßen den Bäckerkuchen, was man so als Kind für Maßstäbe hat. Sie hatten natürlich bessere Kleidung und durften reiten, das war für mich in weiter Ferne. Aber ich bin nicht deprimiert zurückgeblieben, sondern hatte den Eindruck, daß ich es auch schön auf eine bestimmte Art und Weise hatte. Bis ich später natürlich auch in Situationen kam, wo es nicht mehr besonders lustig war.
Auf welche Weise mußten Sie sich mit dem Staat arrangieren? Wenn wir von der Krake ausgehen: Mußten Sie sich an der Arbeit der Krake beteiligen?
Wir konnten nicht alle Zeitungen lesen und bekamen nicht alle Bücher, das erfuhren wir auch als Kind schnell. Wir hatten das Glück, viele Westpakete zu bekommen, aber wenn Sie dann einen auffälligen Anorak hatten, mußten Sie sich gleich gegenüber den Mitschülern und Lehrern rechtfertigen. Dann ging es los: keine besondere Auszeichnung am Ende der ersten Klasse, wenn Sie nicht in den "Jungen Pionieren" waren. Meine Eltern legten Wert darauf, daß wir nicht sofort in der ersten Klasse zu den Pionieren gingen. Sie wollten uns zeigen: Ihr müßt nicht. Danach haben sie uns die Wahl gelassen. Da ich ein sehr gemeinschaftsfreundliches Kind war, wollte ich gerne in die Pioniere gehen. Meine Schwester wollte bei den Pionieren mal Gruppenratsvorsitzende werden, das ist so etwas wie ein Klassensprecher. Da ist ihr gesagt worden, das könne sie nicht werden, weil sie so einen weiten Schulweg habe. Meine Eltern haben ihr aber dann erklärt, daß die Ablehnung ganz andere Hintergründe hatte. Wir hatten auch Lehrerinnen, die uns von Anfang an sehr viel über den Zweiten Weltkrieg erzählten oder über die Kommunistenverfolgung. Das Politische spielte jeden Tag in der Schule eine sehr dominante Rolle.
In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit?
In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit dem sogenannten Klassenfeind. Die DDR war nach dieser Lesart der Ort Deutschlands, an dem alle Kräfte, die mit dem Nationalsozialismus etwas zu tun hatten, nicht existierten. Die waren angeblich alle im Westen.
Fühlten Sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt bedroht von diesem Westen?
Nein. Wir sahen ja Westfernsehen, und ich hatte Verwandte im Westen und wußte, daß die Horrorberichte der DDR über den Westen falsch waren. Einmal im Leben habe ich mich jedoch gefürchtet, ob Reagan, der mit Gorbatschow in Reykjavik sehr hart verhandelt hatte, nicht zu weit gegangen war und die Sowjetunion zu sehr gereizt hatte. Aber meine Sorge war ja unbegründet.
Fühlten Sie sich von Ihrem eigenen System bedroht?
Wenn wir als Kinder telefonierten, haben meine Eltern gesagt: Paßt auf, das hört alles die Stasi mit. Es waren Menschen bei meinem Vater, um Rat suchend, die zum Beispiel Probleme mit der Staatssicherheit hatten. Man war umgeben von Pfarrerskindern, die, weil sie nicht in den Pionieren waren, nicht studieren durften, nicht auf die Erweiterte Oberschule kamen.
Hatten Sie gelegentlich den Gedanken, in den Westen zu gehen?
Darüber habe ich mit meinen Eltern öfter gesprochen, eher in der Studienzeit zwischen achtzehn und vierundzwanzig. Für mich war immer der Gedanke wichtig: Wenn ich in eine Situation komme, in der ich in der DDR keine Lösung sehe, dann weiß ich, ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft, ich könnte in den Westen ausreisen. Es blieb zwar nur theoretisch, aber diese Möglichkeit war wichtig für mich.
Haben Sie Ihren Eltern Vorwürfe gemacht, daß sie in die DDR gegangen und nicht in Hamburg geblieben sind?
Nein. Ich habe den Entschluß meiner Eltern respektiert. Ich habe nur von ihnen erwartet, daß sie umgekehrt auch respektieren würden, wenn ich in den Westen ginge.
Als Sie an diesem 9. November in den Westen gingen, hatten Sie da das Gefühl, daß hier ein Paradies sich öffnet? Oder war es für Sie ein anderes Deutschland?
Paradies nicht. Ich war 1986 schon einmal zur Hochzeit einer meiner Kusinen in Hamburg gewesen und hatte diesen Aufenthalt dazu genutzt, noch einen Rundgang durch West-Berlin zu machen. Ich ging vom Tiergarten Richtung Kreuzberg. Man sah genau, daß das in Ost und West die gleiche Stadt ist, die Art der Bauten, die Hinterhöfe, nur bunter angemalt und mit anderen Autos davor. Das war mein erster Eindruck - aber dann sah ich in West-Berlin noch Türkinnen, manche verschleiert. Das gab es in Ost-Berlin nicht. Im Grunde hatte ich eine etwas fernsehverzerrte Vorstellung von der Bundesrepublik. Ich war in Moskau gewesen, in Budapest, in Bulgarien, aber als ich das erste Mal in die Situation kam, alleine in einem westdeutschen Hotel zu übernachten, habe ich mir die Frage gestellt, ob man es als allein reisende Frau im Westen wagen kann, alleine in einem Hotel zu schlafen. Irgendwie war ich vom "Tatort" geprägt.
Wie waren Ihre ersten Erfahrungen nach der Wende?
Es war ein hochinteressanter Prozeß, weil wir, die wir uns kannten, alle einig waren in unser Kritik an der DDR-Führung.
In der Opposition kannten sich schon alle?
Nicht alle, aber jeder hat seinen Freundeskreis, dort war die Kritik an der DDR schon klar. Es hatte sich schon in den achtziger Jahren herausgestellt, als wir Rudolf Bahro lasen, daß der DDR-kritische Teil von Rudolf Bahros Buch vollkommen akzeptiert war. Aber über seine ökonomischen Perspektiven haben wir sehr gestritten. Aus meiner Sicht war dieser Teil irrational, ich weiß aber, daß die Freunde, mit denen ich das Buch zusammen las, den "Dritten Weg" für eine spannende Idee hielten. Ich war immer ein sehr pragmatischer Typ, und für mich war die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft diejenige, die mir am besten erschien.
Welche Rolle spielt für Sie Gorbatschow?
Für mich spielt Gorbatschow nicht eine so fulminante Rolle wie für viele im Westen, wo er sehr verehrt wurde. Nach Breschnew, Andropow und Tschernenko bedeutete er ohne Zweifel einen Fortschritt, Aber ich fand, daß Gorbatschow die Kraft der Sozialen Marktwirtschaft nicht erkannte. Ich hörte ihn einmal, wie er über Eigentum sprach, das hörte sich an wie eine Fata Morgana. Natürlich haben wir ihm viel zu verdanken. Aber ich habe in ihm immer auch ein großes Stück der alten Zeit gesehen.
Haben Sie politische Vorbilder, Idealgestalten?
Ich habe keine Vorbilder, aber wie viele, viele andere fand ich John F. Kennedy toll. Ich habe mich mit Martin Luther King, mit Albert Schweitzer beschäftigt, ich hatte immer einen Hang zu Leuten, die auf friedlichem Wege, durch die Macht der Persönlichkeit, etwas bewegt haben. Aber ich habe auch früh den vielgescholtenen Reagan für sehr zielführend gehalten im Kampf gegen den Kommunismus.
Was hat Sie bewogen, in den "Demokratischen Aufbruch" zu gehen?
Für mich waren das "Neue Forum" und die Gruppe "Demokratie Jetzt" ökonomisch nicht überzeugend, die waren zu träumerisch. Während der internen Auseinandersetzungen des "Demokratischen Aufbruchs" im Winter 1989/90 entschied ich mich für schnelle deutsche Einheit, schnelle Währungsunion und Soziale Marktwirtschaft.
Wie erklären Sie sich eines der größten Wunder dieser Tage: daß tatsächlich kein Schuß gefallen ist?
Geschossen hätte man nur auf Befehl. Da von Herrn Schabowski die Dinge eingeleitet wurden, machte es auf alle Befehlsstrukturen den Eindruck, daß der Mauerfall vom Politbüro gedeckt war. Im nachhinein muß man sich natürlich fragen, wer da eigentlich mit den Russen gesprochen hat.
Ganz oben saß Egon Krenz. Schabowski hat eine mißverständliche Erklärung abgegeben, verantwortet hat die Öffnung der Mauer und damit auch das Ende der DDR aber Egon Krenz. Das ist derjenige, der später ins Gefängnis gekommen ist dafür, daß er die Mauer vorher nicht aufgemacht hat. Fanden Sie es richtig, wie man ihn behandelt hat? Mit der folgenden rechtlichen Konstruktion: Derjenige, der die Mauer aufgemacht hat, hatte vorher auch die Verfügungsgewalt darüber, daß sie nicht aufgemacht wurde.
Ich habe seine Prozeßakten natürlich nicht studiert. Aber Herr Krenz war selbstverständlich kein unbeschriebenes Blatt, denn als FDJ-Vorsitzender hat er vieles gewußt und mitgemacht. Wir konnten uns danach nicht vorstellen, daß Herr Schabowski etwas vorliest, was Herr Krenz nicht deckt, sondern für uns war das Politbüro zu dieser Überzeugung gelangt. Erst im nachhinein hat sich dann herausgestellt, daß Herr Schabowski durchaus bis an die Grenze der Interpretierbarkeit dieser Botschaft gegangen ist.
Hätte man Krenz und Schabowski nicht den Friedensnobelpreis geben müssen, wo sie es doch waren, die Schüsse verhinderten?
Nein, das finde ich abwegig. Im übrigen waren es die Ungarn, die die mutige Tat vollbracht haben, die Grenze zu Österreich zu öffnen.
Hätten Sie sich damals vorstellen können, daß auch dieses Land, der Westen, einmal wirtschaftlich in die Knie gehen könnte?
Vorweg: Trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist unsere Lage in keiner Weise mit der der DDR vergleichbar. Aber selbst unsere heutigen Probleme konnte man sich aus der Perspektive der DDR nicht vorstellen, da schon der Niedergang der DDR ewig dauerte und ewig prognostiziert war und nicht eintrat, in den fünfziger Jahren, den Sechzigern, den Siebzigern. Nachher hieß es aus dem Westen, die DDR sei die zehntstärkste Wirtschaftsnation der Welt. Dann habe ich mir die zerfallenen Chemieanlagen in Riesa oder in Leuna angeguckt und habe mir gesagt: Na ja, wenn die das alle sagen im Westen, dann muß da ja etwas dran sein. Als ich die gesamten Übergangsprobleme sah - hier wurde eine Milliarde gebraucht, und dort wurde etwas gebraucht und dort -, da habe ich zum ersten Mal, so um den Tag der Deutschen Einheit herum, gedacht: Hoffentlich kann die Bundesrepublik das tragen.
Der Gedanke ging Ihnen durch den Kopf, daß es solche Belastungen sein könnten für den Westen?
Ich wurde Ministerin im ersten Kabinett nach der Wiedervereinigung und lernte langsam die Mechanismen der alten Bundesrepublik kennen. Da habe ich oft gesagt: Meine Güte, ihr wißt gar nicht, wie viele sozialistische Elemente ihr in manchen Bereichen eigentlich habt - sozialistisch war für mich gleichbedeutend mit ineffizienten Elementen. Langsam stellte sich heraus, daß nach dem Kalten Krieg eine sehr neue Wettbewerbssituation durch die Globalisierung entstand.
Wir wissen heute, daß die DDR deshalb marode war und schließlich zusammenbrach - auch deshalb, weil sie nur noch von ihrer Substanz lebte. Wenn wir feststellen, daß auch die Bundesrepublik heute von ihrer Substanz lebt: Sind wir eigentlich aus der Perspektive eines künftigen Historikers weit von einem Günter Mittag entfernt?
Noch einmal: Die DDR und unser Land heute sind nicht vergleichbar, aber ich habe in meiner Rede am 1. Oktober 2003 gesagt, daß die Bundesrepublik im Augenblick von der Substanz lebt. Ich halte das für einen ganz gefährlichen Prozeß. Gefährlich deshalb, weil Sie seine Wirkungen über viele Jahre nicht richtig ersehen können. Mal sieht die eine Schule schlecht aus, und es gibt hier ein Loch in der Straße, aber es ist ein langsamer Prozeß. Wenn man dem allerdings nicht schnell genug Einhalt gebietet, beschleunigt er sich.
Die Versäumnisse sind aber nicht allein das Resultat von sechseinhalb Jahren rot-grüner Koalition.
Nein, das habe ich damit auch nicht gesagt. Ich habe gelernt, daß im Grunde seit der Großen Koalition Ende der sechziger Jahre Wachstum durch Schulden erkauft wurde. Da gab es zwar in den achtziger Jahren ein Gegensteuern unter Kohl und Stoltenberg. Aber insgesamt ist eine Entwicklung in Gang gesetzt worden, die kritisch ist.
Glauben Sie, daß man die Mentalität der Gründerjahre der Bundesrepublik wieder zum Leben erwecken könnte?
Ich würde mir wünschen, daß so etwas Ähnliches wieder entsteht. Ich glaube, daß man ein Stück Mut haben muß, Freiräume zu schaffen. Es sind zu viele vermeintliche Sicherheiten in Form von Bürokratien geschaffen worden, Risikominimierungen im Grunde, die uns Freiheitsgrade rauben. Heute geht es darum, in einem Dickicht vermeintlicher Sicherheiten zu entscheiden: Was davon brauche ich und was nicht?
Aber wie können Sie als Politikerin Wähler heute gewinnen für Reformen, deren Wirkungen erst in einem Jahrzehnt eintreten werden?
Ich kann nur Herrn Peres, den ehemaligen israelischen Außenminister, zitieren:
"There is no leadership without risk." Es bedarf eines gewissen Risikos, eine Entscheidung zu fällen. Die Welt ist heute so komplex geworden, daß Sie nicht sagen können, was genau die Wirkung von dem ist und dem. Aber sehr wohl können Sie die Weichen richtig stellen. Darum hat es zu gehen, nicht mehr und nicht weniger. Wenn Sie gar nichts tun, wird es immer schlimmer. Wenn einem Deutschland ein Stück am Herzen liegt, muß man auch deshalb ein bißchen Risiko eingehen.
Das Gespräch führten Stefan Aust und
Frank Schirrmacher.
Text: F.A.Z., 28.05.2005, Nr. 121 / Seite 34
Bildmaterial: REUTERS
Politische Stärke aus dem Pfarrhaus: Angela Merkel spricht über den 9. November 1989 und die Zukunft Deutschlands
Frau Merkel, was haben Sie am 9.November 1989 gemacht?
Am Tag arbeitete ich in der Akademie der Wissenschaften in Adlershof. Am Abend bin ich, wie ich es donnerstags regelmäßig machte, in die Sauna im Thälmannpark gegangen. Vorher hatte ich noch im Fernsehen die Pressekonferenz mit Günter Schabowski gesehen, als er den berühmten kryptischen Zettel zur Reisefreiheit verlas. Ich rief schnell noch meine Mutter an, weil wir eine stehende Wendung hatten: Wir gehen Austern essen zu Kempinski, wenn die Mauer fällt - was wir bis heute noch nicht gemacht haben. Ich sagte jedenfalls, sie solle ihr Westgeld zusammenkramen, es könne bald soweit sein. Als ich zurückkam, sah ich, daß Menschen die Bornholmer Straße hinunterströmten, ich schloß mich dem Strom an und bin dann am 9. November zum ersten Mal ohne Kontrolle über die Grenze gegangen.
War Ihnen in diesem Augenblick schon klar, daß das das Ende der DDR bedeutete?
An dem Abend war ich erst mal beeindruckt und ergriffen. Ich fuhr am nächsten Morgen wie immer von der Schönhauser Allee nach Adlershof zur Arbeit. Dort waren viele vom Wachregiment Felix Dzierzynski, die ja für die Grenzbewachung verantwortlich waren, die fuhren am Freitag ins Wochenende. Sie unterhielten sich darüber, daß das Lebenswerk ihrer Vorgesetzten, der Offiziere der Nationalen Volksarmee, sich in dieser Nacht erledigt hätte. Und da ist mir klargeworden, daß jetzt etwas im Gange ist, was wahrscheinlich das Ende der DDR bedeutet.
Wollten Sie damals schon in die Politik gehen?
In diesen ersten Tagen noch nicht. Aber dann wurde klar, es werden neue Leute gebraucht. Ich wollte in eine der neuen Parteien. Ich dachte mir auch, daß diese Gruppen eine großte Kraft entfalten würden. So kam ich zum "Demokratischen Aufbruch".
Was ist Ihre erste bewußte politische Erinnerung?
Mit Sicherheit der Mauerbau und die Tage davor. Meine Großmutter hatte damals einen runden Geburtstag. Sie hatte sich gewünscht, daß mein Vater sie im Sommer mit einem gemieteten VW Käfer durch Bayern fährt. Wir waren als Familie viele hundert Kilometer gefahren, kamen Anfang August zurück und fuhren zum Abschluß der Reise zu der anderen Großmutter nach Pankow. Ich weiß noch, wie ich mit ihr über die Wollankstraße ging, weil sie im Westen noch einmal Zigaretten kaufen wollte. Mir fiel dabei auf, daß sich mein Vater und meine Großmutter so traurig verabschiedeten, weil sie ahnten, in Berlin wird etwas passieren, denn in den Wäldern lag überall Stacheldraht. Den hatten wir bei unserer Rückfahrt gesehen. Der 13. August war ein Sonntag, und mein Vater hatte als Pfarrer einen Gottesdienst zu feiern. Alle haben geweint.
Sie sind im Westen, in Hamburg, geboren, und Ihr Vater wechselte als Pfarrer in die DDR.
Er kam aus Pankow und hatte immer die Absicht, als Pfarrer wieder in die Sowjetische Besatzungszone zurückzugehen. Solche Entscheidungen waren gar nicht so selten, wie manche denken, denn diese Generation hatte den Eindruck, auch in der Sowjetischen Besatzungszone müsse die Kirche ein vernünftiges Fundament haben. Man konnte besser im Westen studieren, das hat er dann auch getan in Bielefeld und in Hamburg als Vikar, wo er meine Mutter kennenlernte, und dort bin ich noch geboren worden. Ich bin dann aber im Alter von sechs Wochen in die DDR gekommen.
Hatte er damals auch eine gewisse Sympathie für den Sozialismus?
Es gab verschiedene Phasen. Er hat mit einer sehr langen Teilung Deutschlands gerechnet, nicht allerdings mit der Wiedervereinigung zu Lebzeiten. Er sagte, es habe keinen Sinn, immer so zu tun, als wären wir eine Kirche mit einer Struktur. Er arbeitete im Weißenseer Arbeitskreis mit, der eher zum linken Spektrum gehörte, erlebte dann aber auch viele Enttäuschungen. Spätestens 1968 war der Wendepunkt, beim Einmarsch der Russen in der Tschechoslowakei.
Wie haben Sie als Kind die DDR und die Mauer erlebt?
Ein Kinderleben besteht ja nicht nur aus Politik und in diesem unpolitischen Sinn hatte ich einfach ein sehr schönes Leben. Ich bin in einer wunderschönen Landschaft aufgewachsen, in der Uckermark. Ich hatte Eltern, die uns mit viel Liebe erzogen haben und uns eine breite Bildung zugänglich machten - ich hatte eine schöne Kindheit. Wir haben im Kirchenchor gesungen. Die Kirche war eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Ich habe dann sehr früh gelernt, daß man im Freundeskreis alles besprechen kann, aber draußen eben vorsichtig ist. Aber das hat mich nicht so beschwert. Meine Mutter hat sich jedoch gefragt, ob es ihre Kinder schlechter als die ihrer Schwester im Westen hätten. Meine Tante kam jeden Sommer mit ihren Kindern zu uns nach Templin, und da habe ich, weil ich ebendiese Sorgen meiner Mutter kannte, immer überprüft, wie es meinen Kusinen geht und wie es mir geht. Ich bin dann zu einem recht ausgewogenen Bild gekommen. Meine Kusinen genossen bei uns die Seen, aßen den Bäckerkuchen, was man so als Kind für Maßstäbe hat. Sie hatten natürlich bessere Kleidung und durften reiten, das war für mich in weiter Ferne. Aber ich bin nicht deprimiert zurückgeblieben, sondern hatte den Eindruck, daß ich es auch schön auf eine bestimmte Art und Weise hatte. Bis ich später natürlich auch in Situationen kam, wo es nicht mehr besonders lustig war.
Auf welche Weise mußten Sie sich mit dem Staat arrangieren? Wenn wir von der Krake ausgehen: Mußten Sie sich an der Arbeit der Krake beteiligen?
Wir konnten nicht alle Zeitungen lesen und bekamen nicht alle Bücher, das erfuhren wir auch als Kind schnell. Wir hatten das Glück, viele Westpakete zu bekommen, aber wenn Sie dann einen auffälligen Anorak hatten, mußten Sie sich gleich gegenüber den Mitschülern und Lehrern rechtfertigen. Dann ging es los: keine besondere Auszeichnung am Ende der ersten Klasse, wenn Sie nicht in den "Jungen Pionieren" waren. Meine Eltern legten Wert darauf, daß wir nicht sofort in der ersten Klasse zu den Pionieren gingen. Sie wollten uns zeigen: Ihr müßt nicht. Danach haben sie uns die Wahl gelassen. Da ich ein sehr gemeinschaftsfreundliches Kind war, wollte ich gerne in die Pioniere gehen. Meine Schwester wollte bei den Pionieren mal Gruppenratsvorsitzende werden, das ist so etwas wie ein Klassensprecher. Da ist ihr gesagt worden, das könne sie nicht werden, weil sie so einen weiten Schulweg habe. Meine Eltern haben ihr aber dann erklärt, daß die Ablehnung ganz andere Hintergründe hatte. Wir hatten auch Lehrerinnen, die uns von Anfang an sehr viel über den Zweiten Weltkrieg erzählten oder über die Kommunistenverfolgung. Das Politische spielte jeden Tag in der Schule eine sehr dominante Rolle.
In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit?
In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit dem sogenannten Klassenfeind. Die DDR war nach dieser Lesart der Ort Deutschlands, an dem alle Kräfte, die mit dem Nationalsozialismus etwas zu tun hatten, nicht existierten. Die waren angeblich alle im Westen.
Fühlten Sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt bedroht von diesem Westen?
Nein. Wir sahen ja Westfernsehen, und ich hatte Verwandte im Westen und wußte, daß die Horrorberichte der DDR über den Westen falsch waren. Einmal im Leben habe ich mich jedoch gefürchtet, ob Reagan, der mit Gorbatschow in Reykjavik sehr hart verhandelt hatte, nicht zu weit gegangen war und die Sowjetunion zu sehr gereizt hatte. Aber meine Sorge war ja unbegründet.
Fühlten Sie sich von Ihrem eigenen System bedroht?
Wenn wir als Kinder telefonierten, haben meine Eltern gesagt: Paßt auf, das hört alles die Stasi mit. Es waren Menschen bei meinem Vater, um Rat suchend, die zum Beispiel Probleme mit der Staatssicherheit hatten. Man war umgeben von Pfarrerskindern, die, weil sie nicht in den Pionieren waren, nicht studieren durften, nicht auf die Erweiterte Oberschule kamen.
Hatten Sie gelegentlich den Gedanken, in den Westen zu gehen?
Darüber habe ich mit meinen Eltern öfter gesprochen, eher in der Studienzeit zwischen achtzehn und vierundzwanzig. Für mich war immer der Gedanke wichtig: Wenn ich in eine Situation komme, in der ich in der DDR keine Lösung sehe, dann weiß ich, ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft, ich könnte in den Westen ausreisen. Es blieb zwar nur theoretisch, aber diese Möglichkeit war wichtig für mich.
Haben Sie Ihren Eltern Vorwürfe gemacht, daß sie in die DDR gegangen und nicht in Hamburg geblieben sind?
Nein. Ich habe den Entschluß meiner Eltern respektiert. Ich habe nur von ihnen erwartet, daß sie umgekehrt auch respektieren würden, wenn ich in den Westen ginge.
Als Sie an diesem 9. November in den Westen gingen, hatten Sie da das Gefühl, daß hier ein Paradies sich öffnet? Oder war es für Sie ein anderes Deutschland?
Paradies nicht. Ich war 1986 schon einmal zur Hochzeit einer meiner Kusinen in Hamburg gewesen und hatte diesen Aufenthalt dazu genutzt, noch einen Rundgang durch West-Berlin zu machen. Ich ging vom Tiergarten Richtung Kreuzberg. Man sah genau, daß das in Ost und West die gleiche Stadt ist, die Art der Bauten, die Hinterhöfe, nur bunter angemalt und mit anderen Autos davor. Das war mein erster Eindruck - aber dann sah ich in West-Berlin noch Türkinnen, manche verschleiert. Das gab es in Ost-Berlin nicht. Im Grunde hatte ich eine etwas fernsehverzerrte Vorstellung von der Bundesrepublik. Ich war in Moskau gewesen, in Budapest, in Bulgarien, aber als ich das erste Mal in die Situation kam, alleine in einem westdeutschen Hotel zu übernachten, habe ich mir die Frage gestellt, ob man es als allein reisende Frau im Westen wagen kann, alleine in einem Hotel zu schlafen. Irgendwie war ich vom "Tatort" geprägt.
Wie waren Ihre ersten Erfahrungen nach der Wende?
Es war ein hochinteressanter Prozeß, weil wir, die wir uns kannten, alle einig waren in unser Kritik an der DDR-Führung.
In der Opposition kannten sich schon alle?
Nicht alle, aber jeder hat seinen Freundeskreis, dort war die Kritik an der DDR schon klar. Es hatte sich schon in den achtziger Jahren herausgestellt, als wir Rudolf Bahro lasen, daß der DDR-kritische Teil von Rudolf Bahros Buch vollkommen akzeptiert war. Aber über seine ökonomischen Perspektiven haben wir sehr gestritten. Aus meiner Sicht war dieser Teil irrational, ich weiß aber, daß die Freunde, mit denen ich das Buch zusammen las, den "Dritten Weg" für eine spannende Idee hielten. Ich war immer ein sehr pragmatischer Typ, und für mich war die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft diejenige, die mir am besten erschien.
Welche Rolle spielt für Sie Gorbatschow?
Für mich spielt Gorbatschow nicht eine so fulminante Rolle wie für viele im Westen, wo er sehr verehrt wurde. Nach Breschnew, Andropow und Tschernenko bedeutete er ohne Zweifel einen Fortschritt, Aber ich fand, daß Gorbatschow die Kraft der Sozialen Marktwirtschaft nicht erkannte. Ich hörte ihn einmal, wie er über Eigentum sprach, das hörte sich an wie eine Fata Morgana. Natürlich haben wir ihm viel zu verdanken. Aber ich habe in ihm immer auch ein großes Stück der alten Zeit gesehen.
Haben Sie politische Vorbilder, Idealgestalten?
Ich habe keine Vorbilder, aber wie viele, viele andere fand ich John F. Kennedy toll. Ich habe mich mit Martin Luther King, mit Albert Schweitzer beschäftigt, ich hatte immer einen Hang zu Leuten, die auf friedlichem Wege, durch die Macht der Persönlichkeit, etwas bewegt haben. Aber ich habe auch früh den vielgescholtenen Reagan für sehr zielführend gehalten im Kampf gegen den Kommunismus.
Was hat Sie bewogen, in den "Demokratischen Aufbruch" zu gehen?
Für mich waren das "Neue Forum" und die Gruppe "Demokratie Jetzt" ökonomisch nicht überzeugend, die waren zu träumerisch. Während der internen Auseinandersetzungen des "Demokratischen Aufbruchs" im Winter 1989/90 entschied ich mich für schnelle deutsche Einheit, schnelle Währungsunion und Soziale Marktwirtschaft.
Wie erklären Sie sich eines der größten Wunder dieser Tage: daß tatsächlich kein Schuß gefallen ist?
Geschossen hätte man nur auf Befehl. Da von Herrn Schabowski die Dinge eingeleitet wurden, machte es auf alle Befehlsstrukturen den Eindruck, daß der Mauerfall vom Politbüro gedeckt war. Im nachhinein muß man sich natürlich fragen, wer da eigentlich mit den Russen gesprochen hat.
Ganz oben saß Egon Krenz. Schabowski hat eine mißverständliche Erklärung abgegeben, verantwortet hat die Öffnung der Mauer und damit auch das Ende der DDR aber Egon Krenz. Das ist derjenige, der später ins Gefängnis gekommen ist dafür, daß er die Mauer vorher nicht aufgemacht hat. Fanden Sie es richtig, wie man ihn behandelt hat? Mit der folgenden rechtlichen Konstruktion: Derjenige, der die Mauer aufgemacht hat, hatte vorher auch die Verfügungsgewalt darüber, daß sie nicht aufgemacht wurde.
Ich habe seine Prozeßakten natürlich nicht studiert. Aber Herr Krenz war selbstverständlich kein unbeschriebenes Blatt, denn als FDJ-Vorsitzender hat er vieles gewußt und mitgemacht. Wir konnten uns danach nicht vorstellen, daß Herr Schabowski etwas vorliest, was Herr Krenz nicht deckt, sondern für uns war das Politbüro zu dieser Überzeugung gelangt. Erst im nachhinein hat sich dann herausgestellt, daß Herr Schabowski durchaus bis an die Grenze der Interpretierbarkeit dieser Botschaft gegangen ist.
Hätte man Krenz und Schabowski nicht den Friedensnobelpreis geben müssen, wo sie es doch waren, die Schüsse verhinderten?
Nein, das finde ich abwegig. Im übrigen waren es die Ungarn, die die mutige Tat vollbracht haben, die Grenze zu Österreich zu öffnen.
Hätten Sie sich damals vorstellen können, daß auch dieses Land, der Westen, einmal wirtschaftlich in die Knie gehen könnte?
Vorweg: Trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist unsere Lage in keiner Weise mit der der DDR vergleichbar. Aber selbst unsere heutigen Probleme konnte man sich aus der Perspektive der DDR nicht vorstellen, da schon der Niedergang der DDR ewig dauerte und ewig prognostiziert war und nicht eintrat, in den fünfziger Jahren, den Sechzigern, den Siebzigern. Nachher hieß es aus dem Westen, die DDR sei die zehntstärkste Wirtschaftsnation der Welt. Dann habe ich mir die zerfallenen Chemieanlagen in Riesa oder in Leuna angeguckt und habe mir gesagt: Na ja, wenn die das alle sagen im Westen, dann muß da ja etwas dran sein. Als ich die gesamten Übergangsprobleme sah - hier wurde eine Milliarde gebraucht, und dort wurde etwas gebraucht und dort -, da habe ich zum ersten Mal, so um den Tag der Deutschen Einheit herum, gedacht: Hoffentlich kann die Bundesrepublik das tragen.
Der Gedanke ging Ihnen durch den Kopf, daß es solche Belastungen sein könnten für den Westen?
Ich wurde Ministerin im ersten Kabinett nach der Wiedervereinigung und lernte langsam die Mechanismen der alten Bundesrepublik kennen. Da habe ich oft gesagt: Meine Güte, ihr wißt gar nicht, wie viele sozialistische Elemente ihr in manchen Bereichen eigentlich habt - sozialistisch war für mich gleichbedeutend mit ineffizienten Elementen. Langsam stellte sich heraus, daß nach dem Kalten Krieg eine sehr neue Wettbewerbssituation durch die Globalisierung entstand.
Wir wissen heute, daß die DDR deshalb marode war und schließlich zusammenbrach - auch deshalb, weil sie nur noch von ihrer Substanz lebte. Wenn wir feststellen, daß auch die Bundesrepublik heute von ihrer Substanz lebt: Sind wir eigentlich aus der Perspektive eines künftigen Historikers weit von einem Günter Mittag entfernt?
Noch einmal: Die DDR und unser Land heute sind nicht vergleichbar, aber ich habe in meiner Rede am 1. Oktober 2003 gesagt, daß die Bundesrepublik im Augenblick von der Substanz lebt. Ich halte das für einen ganz gefährlichen Prozeß. Gefährlich deshalb, weil Sie seine Wirkungen über viele Jahre nicht richtig ersehen können. Mal sieht die eine Schule schlecht aus, und es gibt hier ein Loch in der Straße, aber es ist ein langsamer Prozeß. Wenn man dem allerdings nicht schnell genug Einhalt gebietet, beschleunigt er sich.
Die Versäumnisse sind aber nicht allein das Resultat von sechseinhalb Jahren rot-grüner Koalition.
Nein, das habe ich damit auch nicht gesagt. Ich habe gelernt, daß im Grunde seit der Großen Koalition Ende der sechziger Jahre Wachstum durch Schulden erkauft wurde. Da gab es zwar in den achtziger Jahren ein Gegensteuern unter Kohl und Stoltenberg. Aber insgesamt ist eine Entwicklung in Gang gesetzt worden, die kritisch ist.
Glauben Sie, daß man die Mentalität der Gründerjahre der Bundesrepublik wieder zum Leben erwecken könnte?
Ich würde mir wünschen, daß so etwas Ähnliches wieder entsteht. Ich glaube, daß man ein Stück Mut haben muß, Freiräume zu schaffen. Es sind zu viele vermeintliche Sicherheiten in Form von Bürokratien geschaffen worden, Risikominimierungen im Grunde, die uns Freiheitsgrade rauben. Heute geht es darum, in einem Dickicht vermeintlicher Sicherheiten zu entscheiden: Was davon brauche ich und was nicht?
Aber wie können Sie als Politikerin Wähler heute gewinnen für Reformen, deren Wirkungen erst in einem Jahrzehnt eintreten werden?
Ich kann nur Herrn Peres, den ehemaligen israelischen Außenminister, zitieren:
"There is no leadership without risk." Es bedarf eines gewissen Risikos, eine Entscheidung zu fällen. Die Welt ist heute so komplex geworden, daß Sie nicht sagen können, was genau die Wirkung von dem ist und dem. Aber sehr wohl können Sie die Weichen richtig stellen. Darum hat es zu gehen, nicht mehr und nicht weniger. Wenn Sie gar nichts tun, wird es immer schlimmer. Wenn einem Deutschland ein Stück am Herzen liegt, muß man auch deshalb ein bißchen Risiko eingehen.
Das Gespräch führten Stefan Aust und
Frank Schirrmacher.
Text: F.A.Z., 28.05.2005, Nr. 121 / Seite 34
Bildmaterial: REUTERS
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