Dienstag, 17. Mai 2005
Republik der Hirnkranken
Litten an schizophrener Psychose:

Malerei: Van Gogh
Musik: Robert Schumann
Literatur: Hölderlin

Hölderlin:
Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen.
Der Jugend Freuden sind - wie lang - wie lang verflossen.
April und Mai und Julius sind ferne,
ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.



Passend heute Artikel N&W im Feuilleton FAZ,
"Republik der Hirnkranken" (s. Kommentar)

"3,7 Millionen Europäer leiden an der mit Wahnvorstellungen verbundenen Schizophrenie"
Schöne Idee darin, ganz Berlin würde von diesen bewohnt.


Im übrigen, auch für die psychisch Kranken bedeutete die Niederlage Deutschlands 45 eine Befreiung.

Auf Radio1 u.a. Patti Smith, "Dancing barefoot" - gut! Die Musikauswahl gibt mir immer wieder Rätsel auf.

It's teatime now. Weißer Tee.

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Demenzen und Sucht berauben Millionen Menschen ihrer Freiheit
Republik der Hirnkranken
Demenzen und Sucht berauben Millionen Menschen ihrer Freiheit

Vielleicht ist die drängendste Frage der Gehirnforschung doch nicht, wie frei wir im tiefsten molekularen Inneren sind, sondern wie krank das Kollektiv der Gehirne ist. Die Zahlen sind beunruhigend. Deutsche und schwedische Wirtschaftswissenschaftler und Gehirnforscher um Patrik Andlin-Sobocki vom Karolinska-Institut haben die verfügbaren Angaben über fast alle Europäer, die 466 Millionen Einwohner der Europäischen Union, der Schweiz, Islands und Norwegens unter die Lupe genommen. Aus den nationalen Datenbanken wurde versucht herauszulesen, wie viele Menschen unter Krankheiten des Gehirns leiden und welche finanziellen Kosten diese Krankheiten jährlich verursachen.

Die Ergebnisse wurden vom "European Brain Council", einem Zusammenschluß der Gesellschaften von Neurologen und Gehirnforschern, vorgelegt. Ein Vergleich mit Amerika und Asien ist gar nicht notwendig, um zu der Schlußfolgerung zu kommen, daß die Europäer von Gehirnkrankheiten geradezu heimgesucht werden.

Das menschliche Gehirn ist ein evolutionär relativ junges, hochkomplexes und enormen Beanspruchungen ausgesetztes Gebilde. Daß es vielfältigen Störungen, Fehlfunktionen und Degenerationsprozessen unterliegt, mag da nicht wundern. Doch daß der Analyse zufolge jeder vierte Europäer an einer Gehirnkrankheit leidet, 127 Millionen Menschen in der Gesamtzahl, unterstreicht die Anfälligkeit des Organs besonders. Das Spektrum der untersuchten Krankheiten ist groß. Wahrscheinlich sind nur Gesundheitsökonomen kühl genug, Alkoholismus und Altersdemenz in einer Kategorie abzuhandeln. Gehirnkrankheiten sind beide allemal. Mag Alkoholismus eine gewisse Portion freien Willens voraussetzen und Demenz völlig losgelöst von Willensentscheidungen als degeneratives Schicksal über einen kommen: Gemeinsam ist ihnen der Hauptschauplatz Gehirn, die Beschädigung der Persönlichkeit, die Abhängigkeit von der Hilfe der Mitmenschen und Sozialsysteme.

Die Schätzzahlen für 2004 lauten: Neun Millionen der 466 Millionen Europäer gelten als alkohol- und drogenabhängig. Zwanzig Millionen sind von Depression und bipolaren Störungen betroffen. 41 Millionen Europäer leiden an ärztlich attestierten Angststörungen, zu denen etwa spontane Panikattacken und die Platzangst zählen. 135000 Menschen sind von einem Hirntumor betroffen. Die Zahl der Demenzkranken, also von Menschen mit ausgeprägten Persönlichkeitsveränderungen und stark eingeschränkter Erinnerungsfähigkeit, beläuft sich auf knapp fünf Millionen. 2,7 Millionen Europäer sind von Epilepsie, einundvierzig Millionen von der harten Form der Migräne betroffen. Dreihundertachtzigtausend leiden an multipler Sklerose, 1,2 Millionen Menschen an der Parkinson-Krankheit, 3,7 Millionen an der mit Wahnvorstellungen verbundenen Schizophrenie, 1,1 Millionen an Folgen eines Schlaganfalls.

Diese Zahlen sind schwer zu vergegenwärtigen, und das Leid des einzelnen läßt sich nur schwer in Worte fassen. Ein abstrakter Zahlenvergleich: Man könnte Berlin nur mit schizophrenen Menschen und ein Land von der Größe Dänemarks allein mit den Demenzkranken Europas bevölkern. Diese imaginierte Dementenrepublik wird vollends zum Albtraum, wenn man sich vorstellt, daß diese Menschen in den Pflegeheimen unter oftmals skandalösen Umständen leben.

Die Kosten der Diagnose, Therapie, stationären Pflege und medikamentösen Behandlung von Gehirnkranken für die lahmende europäische Volkswirtschaft sind der Analyse zufolge immens. Den Gesundheitsökonomen zufolge belaufen allein sie sich auf 135 Milliarden Euro jährlich. Hinzu kommen 179 Milliarden Euro, die dafür angesetzt werden müssen, daß Menschen mit Gehirnkrankheiten zeitweise oder dauerhaft dem Wirtschaftsleben nicht zur Verfügung stehen. 72 Milliarden Euro werden für Pflegeleistungen von Angehörigen und andere "soziale Dienste" veranschlagt. Macht ungeheuerliche dreihundertsechsundachtzig Milliarden Euro jährlich.

Wer wollte diese Zahlen den Betroffenen anlasten? Anders als beim Herzinfarkt nach Stress, Bewegungsmangel und schlechter Ernährung sind - mit Ausnahme vielleicht vieler Suchtkrankheiten - die Freiheitsgrade auf dem Weg zur Gehirnkrankheit sehr gering. Sie entstehen in der Regel durch genetische Neigung, unverschuldete Traumatisierung, weitgehend unbekannte Umwelteinflüsse oder Altersdegeneration.

Als Adressaten der eindrucksvollen Zahlen eignen sich also eher jene Politiker, die Milliardenbeträge lieber in Subventionen fließen lassen, als sie in die Gesundheitsforschung zu investieren. Und auch jene, die in der Hirnforschung vor allem eine Bedrohung sehen und sie in Mißkredit bringen. Dabei ist die Hirnkrankheit, die im Mittelpunkt eines Großteils der Hirnforschung steht, der größte Feind der Freiheit. Hat sie sich manifestiert, nimmt das freie Denken und Handeln, wie es das Gehirn erst ermöglicht, auf katastrophale Weise ab, oftmals unwiderruflich.

Die Gehirnforschung vermag es, auf grundsätzliche Weise Auswege zu schaffen. Sie kann die molekularen Prozesse im Gehirn erhellen, Umwelteinflüsse und soziale Risikofaktoren ermitteln und sodann den Verlauf von Hirnkrankheiten mildern oder sie eines Tages vielleicht sogar heilen. Für 127 Millionen Menschen in Europa kommt die Gefahr für freies Denken und Handeln nicht durch die Gehirnforschung, sondern durch einen Mangel an Gehirnforschung. Das betrifft auch die Handlungsfreiheit der Gesellschaft. An das Vorhaben, dem demographischen Umbruch der Vergreisung mit einer Dynamisierung der Alten zu begegnen, sie stärker in das produktive gesellschaftliche Leben hineinzuholen, ist ohne einen Siegeszug der Gehirnforschung nicht einmal zu denken. CHRISTIAN SCHWÄGERL


Text: F.A.Z., 17.05.2005, Nr. 112 / Seite 42

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