Dienstag, 10. Mai 2005
Der Wahn
Breloer könnte ich immer endlos gucken. Von mir aus könnten sie alle Teile hintereinander bringen.
Diese Überblendungen von Fiktion und Doku sind ein überzeugendes Stilmittel.
http://www.wdr.de/tv/speer_und_er/index.phtml?flash=1


Psychose
Soll ich mir das alles durchlesen? Will ja eigentlich Schluß machen mit dem Thema hier. Beim Überfliegen nicht so recht einverstanden, vor allem Thema Medikamente; dennoch Link
http://www.tamaralex.net/indexde.htm

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Joachim C. Fest über Heinrich Breloers "Speer und Er"
Albert Speer hat uns angelogen - und mehr verraten, als er mußte
Joachim C. Fest über Heinrich Breloers "Speer und Er" und seine heutige Sicht auf die Zusammenarbeit mit Hitlers einstigen Rüstungsminister

Herr Fest, Sie haben den Film "Speer und Er" von Heinrich Breloer gesehen. Wie lautet Ihr Urteil?

Ich finde ihn technisch, in der Verbindung von historischem und nachgedrehtem Material, sowie in der Personenführung außerordentlich und noch besser als Breloers Film über "Die Manns". Bei dem Hitler-Darsteller mache ich erhebliche Abstriche. Doch mein Einwand ist: Das Rätsel "Speer" wird nicht einmal formuliert, taucht überhaupt nicht auf. Das hat mich sehr unbefriedigt gelassen.

Was ist das Rätsel?

Es gibt viele. Ich nenne zunächst nur eines: Da ist ein Mann, der sein Leben lang abhängig war von anderen. Das geht schon bei seinem Lehrer Tessenow los. Dann läßt er sich sklavisch und ehrgeizig zugleich in die größten Verbrechen hineinführen. Es ist ja unterdessen kein Zweifel mehr, daß Speer nicht nur blind war, wie er das gern dargestellt hat, sondern daß er aktiv an den Untaten des Regimes beteiligt war. Aber dann findet er Ende 1944 unversehens eine gewisse Selbständigkeit in der Verhinderung Hitlerscher Zerstörungsbefehle. Das setzt sich fort im Streit mit Hitler Ende März 1945 und wird noch deutlicher in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1945, als Speer zu Hitler geht, nicht zuletzt, um ihm seine Eigenmächtigkeit zu gestehen. Die Speer-Kennerin Gitta Sereny beispielsweise bestreitet dieses Motiv, ein Geständnis, behauptet sie, habe nie stattgefunden.

Und hat das stattgefunden? In dem Film wird das ja auch dargestellt.

Mir jedenfalls hat Speer ausführlich über diesen Besuch, die Motive und Hitlers Reaktion darauf berichtet. Aber erst nachdem seine "Erinnerungen" erschienen waren, wo der Vorgang knapp abgetan wird. Warum? Das weiß ich nicht. Aber es ist ein interessanter Hinweis. Und ich erwarte von einem sechsstündigen Film, daß er mindestens Speers merkwürdigen Umgang mit diesem Problem erwähnt. Und weiter: Wie ist zu erklären, daß ein so fatal anlehnungsbedürftiger Mensch wie Speer zunächst in Nürnberg vor Gericht und dann im Spandauer Zuchthaus immer bei seiner Linie geblieben ist? Wo hatte er das plötzlich her?

Welche Linie meinen Sie jetzt?

Er gesteht die Verbrechen und nennt sich vor Gericht mitverantwortlich. Sein Anwalt rät ihm verzweifelt davon ab, die übrigen Angeklagten sind empört. Er bleibt dabei, niemand redet mehr mit ihm, er gilt als ehrlos und als Verräter. Ich habe einmal mit Hitlers Flugkapitän Hans Baur gesprochen, und der meinte, Speer sei eine Art schlimmerer Judas. Tatsächlich war er für die einen seither ein Schurke und für viele andere ein Lügner. Dennoch hat er nicht nachgegeben. Wie hat er es geschafft, ein halbwegs selbständiger Mensch zu werden? Das ist eines der Rätsel Speers. Doch im Film kein Wort darüber. Es gibt andere Ungereimtheiten. Speer hat seinen Einfluß in der Führung des Regimes, wie vor allem der vierte Teil des Films zeigt, außerordentlich verkleinert. Aber dann schickt er den Doktoranden Matthias Schmidt ausgerechnet zu Rudolf Wolters, dem tiefgekränkten Exfreund, der in alle Manipulationen eingeweiht war, sie zum Teil auf eigene Faust unternommen hat. Wenn Speer nur halb so durchtrieben war, wie die schlauen Köpfe von heute ihm das nachsagen, mußte er wissen, daß Wolters das Doppelspiel aufdecken würde. Warum, habe ich mich mehrfach gefragt. Wollte er etwa sich selber bloßstellen, weil er das ewige Maskenspiel satt hatte? Zu einem Typus seiner Art könnte das passen, einige seiner Äußerungen deuten darauf hin. Und nahm er als "Bekehrter" dem Freund von einst übel, daß der weiterhin zu den Nazi-Jahren und deren Träumen stand? Was, kann man weiter fragen, hat Speer bei den übrigen Selbstbezichtigungen geleitet, von denen einige in meinen Notizen verzeichnet sind? An alle diese Fragen wagt sich der Film nicht.

Aber hat Speer nicht sehr profitiert von der Rolle, die er übernommen hat?

Profitiert? Ja und nein. Ihm war wohl am wichtigsten, daß diese Rolle ihm nach der Verurteilung als Hauptkriegsverbrecher und trotz aller späteren Betrügereien erlaubt hat, mit jenem Rest an Selbstachtung zu leben, den jeder Mensch benötigt.

Immerhin war Speer doch äußerst erfolgreich nach seiner Haftentlassung ...

Ich kann nicht glauben, daß ihn das entschädigt hat. Er hatte sich eingeredet, mit Hitlers Hilfe der größte Architekt einer mehrtausendjährigen Geschichte zu werden. Sind da ein paar Monate auf der Bestsellerliste ein Ausgleich? Und zudem wollte er vor allem beliebt sein, und beliebt war er nicht. Er hat gelegentlich ironisch gesagt, er komme sich vor wie eine Zirkusfigur, die man als den "guten Nazi" rumzeigt, und die Mehrheit bleibe bei der Auffassung, er sei der "schlaue", doch in jedem Fall verlogene Nazi. Das hat ihm zu schaffen gemacht.

Zwei Aussagen in dem Film sind besonders wichtig. Einmal zur Frage, ob Speer Himmlers Posener Rede über die Judenvernichtung gehört hat, die Siedler positiv beantwortet. Und dann Ihr Satz: "Er hat uns alle an der Nase herumgeführt." Fühlen Sie sich von Speer betrogen? Würden Sie ihm heute andere Fragen stellen?

Über Posen weiß Herr Siedler vielleicht nicht genug in den Einzelheiten. Speer hat dazu einige Zeugen aufbieten können, die sich ihm anboten. Er hat sie nicht etwa, wie Gitta Sereny behauptet, mit Anrufen "bombardiert", um die gewünschten Erklärungen zu erhalten. Einer dieser Zeugen, Walther Rohland, der sogenannte "Panzer-Rohland", hat in seinen Memoiren erklärt, daß er Posen zusammen mit Speer vorzeitig verlassen habe. Einer der weiteren Zeugen, Harry Siegmund, sprach mich nach einer Lesung in Kiel von sich aus an und sagte, er habe über den Goldhagen-Bericht gelesen, der Speers Teilnahme bei der Himmler-Rede behauptet. Doch habe er in seinen Unterlagen entdeckt, daß Speer vor der Himmler-Rede abgereist ist, und dann Speer angerufen und sich ihm als Zeuge zur Verfügung gestellt. Wie Frau Sereny darauf komme, Speer habe ihn mit Anrufen verfolgt, verstehe er nicht. "Davon ist kein Wort wahr!" Soviel zur Posener Rede, wobei anzumerken ist, daß Goldhagen auch Zitate gefälscht und erfunden hat, wie er später einräumen mußte. Aber Speer war sehr verwirrt und erklärte mir, er frage sich seither, ob er seiner Erinnerung noch trauen könne. Später, nach der Veröffentlichung des Buches von Matthias Schmidt, habe ich mich gefragt, ob Speer damals zu ahnen begann, daß sein Kartenhaus irgendwann zusammenbrechen werde.

Sie sind da so wohlwollend. Kann es nicht sein, daß Speer Sie einfach angelogen hat?

Er hat es definitiv getan. Doch Siedler und ich sind ihm nicht blind in die Falle gelaufen. Wir waren stets überaus skeptisch. Vielleicht haben wir Speer in der Frage der Posener Rede eher geglaubt, weil er auch einen Grund hatte, nach Rastenburg zu fahren. Er lag ja in einer Art Dauerstreit mit den Gauleitern und wollte vor ihnen im Führerhauptquartier sein, um Hitler für sich und gegen die Parteileute zu beeinflussen. Im übrigen halte ich die ganze Debatte, ob Speer bei der Posener Rede Himmlers anwesend war, für reichlich subaltern. Gewußt hat er von den Massenmorden in jedem Fall. Darüber hinaus konnte Speer über den Verbrechenscharakter des Regimes nicht im Zweifel sein, er war ja doch eine maßgebende Figur in der menschenschinderischen Praxis des Hitler-Systems. Ich denke, wenn seine moralischen Maßstäbe halbwegs funktioniert hätten, wenn da nur ein Rest noch vorhanden gewesen wäre, hätte er längst alles hinwerfen müssen. Er hat sich statt dessen befördern lassen, Machtkämpfe ausgetragen und war am Ende sogar stolz, von Hitler als Nachfolger genannt worden zu sein.

Aber ist es für das Bild des "Dritten Reiches" und die Frage von Auschwitz nicht doch eine symbolisch sehr, sehr wichtige Frage, ob man sich vorstellen kann, daß der oberste Techniker im allerengsten Führungszirkel nichts von dem Kerngeschehen gewußt haben soll?

Die Antwort lautet nein, wie ich mehrfach gesagt und in Veröffentlichungen zu Speer auch geschrieben habe. Im übrigen war Speer nicht der oberste Techniker. Er war der Organisator der Rüstung, mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Rücksichtslos in der Verfolgung seiner Produktionsziffern. Wenn Sie eine moralische Auskunft erwarten, häuft ihm das genügend an Lasten auf. Diese Schuld nimmt niemand von ihm.

Die Tatsache, daß Herr Speer vor der Reichskristallnacht die Sache der Entmietung organisiert hat und wie dann sein Amt offenbar doch, noch bevor die Gestapo die Judenverfolgung in die Hand nahm, initiativ wurde, so daß er das Einsatzzeichen für den Massenmord gab ...

Das halte ich für übertrieben. Das sagt, glaube ich, die Frau Willems ...

Susanne Willems.

Sie sagt, Speer habe den Holocaust begonnen. Das ist zuviel. Mit der "Entmietung" wird das Unrecht zwar noch alltäglicher gemacht. Aber immerhin gab es schon die Fensterschmierereien vom 1. April 1933, die Nürnberger Gesetze und anderes mehr. Daß Hitler kein Einsatzzeichen benötigte, um die Massendeportation und die Massenausrottung zu beginnen, steht doch außer Frage. Die Aktion erhöht nur Speers Schuldanteil. Aber man soll ihn deshalb nicht gleich zu Hitlers bösem Geist machen. Überhaupt gehört es zu den Merkwürdigkeiten des Films, daß er in der Frage der Judenverfolgung ausschließlich auf Speer fixiert ist. Wo bleiben die Goebbels, Himmler, Heydrich, Pohl und viele andere? Das war doch ein Verfolgungsapparat mit vielen Zentren.

An dieser einen Stelle, wo Heinrich Breloer zu Siedler noch sagt: "Begreifen Sie doch endlich, er war nicht, wie Sie offenbar glauben, ein Rädchen in der Terrormaschine. Er war der Terror." Das sagt ja der Breloer an einer Stelle. Würden Sie so weit gehen, daß Sie sagen, Speer war der Terror?

Also Siedler sagt, man müsse Speer immerhin zugute halten, daß er nicht die Standardausrede aller totalitären Funktionäre verwendet: "Ich war nur ein Rädchen in diesem Getriebe." Das hätte, habe ich stets gesagt, bereits der Speerschen Eitelkeit widersprochen. Er hat sich eben doch für mehr als nur für ein Rädchen gehalten. Er war ein Rädchen der Unterdrückungsmaschine, und er war ein Antriebsaggregat zugleich. Das muß man beides sehen.

Wie blicken Sie heute auf Ihre Zusammenarbeit mit Albert Speer?

Es war eine Chance, einen hochrangigen Zeitzeugen befragen zu können. Aber meine Fragen würden heute anders lauten. Ich fühle mich betrogen. Wir haben ihn gegen Ende der Arbeit ja immer wieder gefragt, Herr Siedler und ich: "Herr Speer, haben Sie irgend etwas klein geschrieben, was eigentlich in Großbuchstaben dastehen müßte? Haben Sie irgend etwas ausgelassen?" Er hat uns mit einem so treuherzigen Augenaufschlag versichert: "Es gibt nichts." Und da hat er uns ganz offensichtlich die Unwahrheit gesagt. Ich glaube nicht, daß er das verdrängt hat. Dazu war das dann doch ein zu gravierendes Geschehen. Man muß ja bedenken, das geschieht mitten im Frieden und zu einer Zeit, in der sich das Regime schon so manche Übergriffe erlaubte. Aber das ging erheblich weiter: die Leute aus ihren Wohnungen hinauszutreiben. Nur: Speer war nicht ausschlaggebend. Hitler hätte etwas Ähnliches unternommen, und Goebbels, der immer den Ehrgeiz hatte, Berlin "judenrein" zu machen, hätte auch ganz sicherlich einen Anlaß gefunden, um dies zu tun.

Das zeigt ja noch einmal näher, daß Speer die Voraussetzungen des Regimes teilte.

Natürlich, dafür gibt es viele Belege. Ich habe ihm beispielsweise für seine "Erinnerungen" auch das Geständnis abgenötigt, daß er 1939 zur Kriegspartei gehörte. Deutsche Idealisten sind immer besonders radikal.

Sie fragen Speer ja in dem einen Interview, das auch gezeigt wird in dem Film: "Als Sie diese brennenden Synagogen gesehen haben, hat Sie das moralisch berührt?" Speer antwortete: "Ja, ja. Also Sie fragen mich, ob ich moralische Konsequenzen daraus gezogen habe?" Und Sie sagen: "Nein, es geht ja erst einmal darum, hat es Sie überhaupt moralisch berührt?" Und das hat Speer nicht verstanden.

Was immer Hitler anordnete: an alledem war für seinesgleichen kein Zweifel erlaubt. Das ist keine Frage.

Hätten Sie und Herr Siedler Speer härter befragen müssen? War das überhaupt möglich?

Er hätte dann, wie es ohnehin öfters vorkam, keine Antwort gegeben. Er hat das mitunter bei ganz beiläufigen Fragen getan, die nichts mit seinem moralischen Verhalten zu tun hatten. Er erklärte dann einfach: "Ich will das nicht im Buch haben!" Dann mußten wir nachgeben. Dazu vielleicht: Der britische Historiker Hugh Trevor-Roper wollte ja als erster eine Speer-Biographie schreiben. Dann hat er die Idee aufgegeben, weil Speer ihm auf irgendeiner Veranstaltung in München einen fatalen Eindruck gemacht hat, gar nicht mehr so wie unmittelbar nach dem Krieg. Da hat Trevor-Roper sich gesagt, das lohne nicht. Ich habe ihm daraufhin, um die Absicht zu retten, geraten, er solle einen längeren Essay über Speer schreiben. Nach etwa drei Monaten hat er mir dann mitgeteilt: "Nein, ich schaffe das nicht." Und dann kam auch die Begründung: Speer sei für einen Biographen aus dem Ausland, aus England in diesem Falle, zu schlau. Dann hat er jahrelang mich bedrängt, das Buch zu schreiben, und am Ende habe ich zugesagt.

Waren Sie schlauer als Speer?

Wahrscheinlich nicht. Ich habe die Sache mit der Entmietung bei der Arbeit an den "Erinnerungen" nicht gewußt und konnte folglich nicht danach fragen. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen: Ich war nur der Lektor mit dem Kenntnisstand der Zeit. Selbst die Wissenschaft hat erst dreizehn Jahre nach dem Erscheinen der "Erinnerungen" durch Matthias Schmidt Aufschluß über Speers Rolle gewonnen. Und dann: Es sind Speers Memoiren gewesen. Das war immer unsere Grundsatzüberlegung. Ich kann Speer nicht schreiben lassen, was ich über ihn denke.

Noch einmal zu dem Bunkerbesuch. Was halten Sie von der These, Speer habe verhindern wollen, von Hitler als sein Nachfolger eingesetzt zu werden, und habe gehofft, Verhandlungen mit den Alliierten aufnehmen zu können?

Oh, eine neue These! Ich habe schon die gegenteilige Auffassung gehört, sein Bunkerbesuch habe dem Ziel gedient, zum Nachfolger Hitlers ernannt zu werden. Nein, Speers Motiv war, wie ich denke, banaler und erschreckender zugleich: Er wollte diese "Lebensfreundschaft" würdig, das heißt mit einem eigenen Abschied, beschließen. Dabei hatte er Hitler schon geraume Zeit als "Verbrecher" betrachtet und bezeichnet. Aber er sagte verschiedentlich, er hätte ohne gebührenden Abschied nicht mehr in den Spiegel sehen können. Unfaßlich! Noch einer dieser Widersprüche, die der Film leider nicht aufgreift.

Welche Rolle spielt die Figur Speer für das Nachkriegsdeutschland?

Eine ungeheure.

In welcher Weise? Und mehr noch: Wie war die persönliche Beziehung von Ihnen und Herrn Siedler zu Speer? In dem Film tritt Herr Siedler ja fast als Kronzeuge der Anklage gegen Speer auf.

Das verstehe ich nicht ganz. Vielleicht hat Siedler aufgrund des Gesprächs mit Heinrich Breloer sein Bild von Speer geändert.

Herr Siedler stellt ja mit seinen Bemerkungen sein eigenes Verhältnis zu Speer und seine Arbeit in ein etwas sonderbares Licht.

Herr Siedler hatte eine engere Verbindung zu Speer als ich. Natürlich hatte das nicht zuletzt mit seinem liebenswürdigen Wesen sowie mit seiner vermittelnden Rolle als der Verleger der "Erinnerungen" zu tun. Als ich bei meinem letzten Treffen mit Speer, Anfang 1981, die Frage stellte, warum er unablässig seine Kenntnis der Massenverbrechen bestreite, es müsse doch möglich sein, dem psychologischen Mechanismus, der da gegen alle Lebenserfahrung am Werke sei, auf die Spur zu kommen - da hob Speer seine Hand, faßte an meinen Oberarm und sagte: "Ach wissen Sie, Herr Fest, Sie dürfen mir nicht immer so unbeantwortbare Fragen stellen!" Das war, darauf hat mich meine Frau aufmerksam gemacht, das einzige Mal, daß Speer mir gegenüber eine wenn auch reichlich scheue Vertraulichkeitsgeste gezeigt hat. Sonst gab es dergleichen nicht.

Jetzt noch einmal: Welche Rolle spielte Speer in der Bundesrepublik der sechziger, siebziger Jahre? Sah man in ihm einen Entlastungszeugen?

Ja, so war es. Viele sagten sich, man habe also ein Nazi und dennoch integer geblieben sein können. Das war die Funktion, und insoweit war Speer eine psychologisch ungemein wichtige Figur. Zugleich hat er aber den Verbrechenscharakter des Hitler-Regimes und die Verantwortung, die jeder mitzutragen habe, in wie allgemeinen redensartlichen Wendungen auch immer, unbezweifelbar gemacht. Auf diese Weise hat er viele Deutsche veranlaßt, sich von der verbliebenen Restloyalität zum System Hitlers zu trennen. Das bleibt, denke ich, ein Verdienst, auch wenn wir zunehmend erkennen, daß Speer nicht der Mann war, als den er sich in seinen "Erinnerungen" dargestellt hat.

Hat sich nach dem Film das Bild von Speer gewandelt?

Nein, nicht wesentlich, was immer man davon halten mag. Der Film häuft zwar Belastungsmaterial auf die Person und macht Speers Versagen noch kenntlicher. Aber das sind inzwischen Fragen für Historiker. Seine sozialpsychologische Rolle hat Speer gespielt, und die wird bleiben.

Auch nach dem Film?

Der Film kann das nicht ändern. Die Zeit ist darüber hinweg. Für die derzeitige Generation ist Speer nur noch eine ferne, im historischen Nebel verschwindende Figur - und ob die Schatten, die darüber fallen, tiefer werden, mag die Fachleute beschäftigen. Ein Lebensproblem ist es nur noch für die wenigen, die jene Jahre erlebt haben.

Der Film, über den wir sprechen, ist ja auch ein Film über Siedler und Sie. Sie haben Speer Stimme gegeben. Auch wenn Sie sagen, es waren seine Erinnerungen, so ist doch klar, daß Sie gar nicht anders konnten, als Ihre Diktion diesen Texten aufzuerlegen.

Ist da, nach Ihrer Auffassung, von mir so viel drin in diesem Buch?

Das ist nicht Fest. Aber es ist natürlich eine Stilebene, die kommt aus der Welt von Thomas Mann, sie kommt aus der Klassik ... Das ist natürlich Ihre Diktion oder Ihre Vornehmheit, würde ich sagen.

Nein, das geht zu weit. Das ist nicht meine Diktion, das läßt sich doch auf den ersten Blick erkennen. Ich hatte zweitausend Seiten Aufzeichnungen von Speer, und da habe ich meine Zeichen am Rande gesetzt. Wenn ich einen durchgehenden Strich machte, so hieß es: Das müssen wir mehr oder minder übernehmen. Wenn ich eine gestrichelte Linie zeichnete, hieß das: Die Substanz ja, aber das Ganze ist viel zu breit und zu ausführlich. Da waren vielleicht hier und da zwanzig Seiten, und was nach meiner Durchsicht übrigblieb, waren dann zwei Seiten, es wurde also auf ein Zehntel reduziert. Und dann hat Speer gesagt: "Mit Ihren Kürzungen komme ich nicht zurecht. Bei mir werden es immer acht Seiten. Wollen Sie sich das noch einmal anschauen?" Dann habe ich das mitunter durch einen verbindenden Satz zusammengefügt, daß es auch innere Konsistenz hat. Das war alles. Aber ich habe das nicht neu geschrieben. Das ist eine völlig falsche Annahme. Und Thomas Mann? Du lieber Himmel!

Was passiert, wenn aus dem Gesamtkomplex "Drittes Reich" die Figur Speer rausgelöst wird und er nicht mehr die Rolle des Entlastungszeugen spielen kann, sondern als "der Terror selber" dasteht?

Da laufen Sie wieder Gefahr, das ganze Geschehen in Schwarz oder Weiß zu sehen. Wie immer, ist auch dies eine Geschichte der Grautöne, heller grau und mehr noch dunkler grau.

Sie dürfen Speer auch nicht als Zerrbild sehen. Ich glaube, man muß das ganze Bild wahrnehmen. Die Tatsache, daß Speer vieles verschwiegen hat, ist das eine. Und daß er vieles preisgegeben hat, was er eigentlich nicht hätte preisgeben müssen, das andere. Hinzu kommt aber noch etwas:

Es hat kein hochgestellter Funktionär eines der totalitären Regime des zwanzigsten Jahrhunderts, Mao, Idi Amin, Stalin, Pinochet und wer sonst noch alles, Keiner der Gefolgsleute dieser Staatsverbrecher hat ein Zeugnis hinterlassen wie Speer, und keiner hat solche Schuldbekenntnisse abgelegt. Da ist bei Speer vielleicht vieles verschwiegen oder verlogen gewesen unter einem moralischen Gesichtspunkt, zu dem wir ja heute alle neigen. Die Position Speers ist gewiß nicht die ganze Wahrheit. Aber selbst diese halbe oder Viertelwahrheit ist von den anderen nicht einmal versucht worden. Ich kenne außer Schabowski keinen DDR-Funktionär, der auch nur gesagt hätte: "Wir haben ein falsches Menschenbild gehabt, wir haben den Menschen Dinge zugemutet, für die sie nicht gemacht sind. Von den Verbrechen ganz zu schweigen." Das habe ich nie gehört. Alle Führungsfiguren von anderswo, zehntausend und mehr, haben nur verstockt geschwiegen und sich vom Weltlauf betrogen gefühlt. Das gehört auch in die Gesamtrechnung Speers. Trotz all der Ausflüchte und Lügen, die er sich geleistet hat. Ich will nichts davon bestreiten! Warum sollte ich! Aber bei der Bilanz zählt das zu den Punkten, die man Speer zugute halten muß.

Sie haben mal die berühmten Sätze geschrieben: "Er (Hitler) war trotz allem

zu groß, zu unverleugbar Symptom und Ergebnis spezifischer Fehlentwicklungen unserer Geschichte, zu sehr in uns selbst, als daß das Vergessen eine angemessene Reaktion wäre. Der totalitäre Infekt überdauert in vielen oft unscheinbar anmutenden Äußerungsformen die Phase seiner eigentlichen Wirksamkeit. Die weltweite politische Entwicklung der Nachkriegszeit hat dem deutschen Volk, zumindest in der Bundesrepublik, eine Schonzeit gewährt, in der es die Bewährungsprobe auf ein verändertes Bewußtsein noch nicht zu leisten hatte. Möglich ist immerhin, daß die nicht selten apologetisch ins Feld geführte politische Vernunft unseres Volkes nur der Reflex vernünftiger Umstände ist. Die Antwort steht noch aus. Doch wer wollte diejenigen tadeln, die ihr mit Besorgnis entgegensehen?" Sie haben das vor vierzig Jahren geschrieben. Wie ist heute ihre Prognose?

Zu meinem Alter gehört wohl, daß ich Mühe mit dem Optimismus habe. Meine Hoffnung richtet sich hauptsächlich auf Europa, weil ich glaube, daß innerhalb des Kontinents ein größeres Unglück nicht passieren kann. Daß die europäischen Verhältnisse das Aufkommen von Diktatoren begünstigen wie in der Zwischenkriegsepoche, halte ich für wenig wahrscheinlich. Ich habe mich in Deutschland während der zurückliegenden fünfzig Jahre bei allem Hin und Her gut aufgehoben gefühlt. Jetzt zum ersten Mal meine ich: Was immer man über dieses Land denken mag: Diese Blindheit, dieses Sich-in-die-Tasche-Lügen und diese Mutlosigkeit, aus denen erfahrungsgemäß die größten Gefahren für die demokratische Ordnung erwachsen - dies alles hat das Land nicht verdient. Es ist wohl zu Anstrengungen bereit. Aber seine führenden Klassen, die Politiker im Bund, die Verwalter der Medien und die geschwätzsüchtigen Intellektuellen, sind es nicht. Aber ich sagte schon, daß man sich immer selbst in Frage stellen soll, und vielleicht ist das alles nur Ausdruck einer Art von Altersmelancholie.

Das Gespräch führten Patrick Bahners, Nils Minkmar und Frank Schirrmacher.


Text: F.A.Z., 25.05.2005, Nr. 119 / Seite 33

Text: F.A.Z., 25.05.2005, Nr. 119 / Seite 32

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Speer und der Nationalsozialismus (Cullen)
Zum Gespräch mit Joachim C. Fest "Albert Speer hat uns angelogen - und mehr verraten, als er mußte" (F.A.Z.-Feuilleton vom 25. Mai): Langsam muß man mit Joachim Fest Mitleid haben. Wie Ikarus hat er nicht bemerkt, daß seine Flügel aus Wachs sind, und ist seiner Sonne (Speer) zu nahe gekommen. Zunächst behauptet er, daß die Historikerin Susanne Willems gesagt habe, Speer habe den Holocaust begonnen, um die Frau zu tadeln: "Da ist zuviel." Frau Willems sagt in ihrem Buch "Der entsiedelte Jude: Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau" lediglich, daß die Idee, Juden aus ihren Wohnungen zu vertreiben, von Speer selbst stammt und dies am 14. September 1938, zwei Monate vor der Reichspogromnacht. Frau Willems hat nicht behauptet, daß Speer den Holocaust begonnen habe - aber: wenn sie es gesagt hätte, würde sie die Wahrheit sagen. Frau Willems attackieren, Albert Speer in Schutz nehmen. Ist da nicht eine Methode?

Fest wußte spätestens mit dem Buch von Matthias Schmidt "Albert Speer. Das Ende eines Mythos" (1982) von diesem Fund (er führt Schmidts Buch in der Bibliographie seiner Speer-Biographie auf); die Fundstelle wurde noch einmal in den Werken von Johann Friedrich (Jonas) Geist und Klaus Kürvers wiederholt. Wenn Fest jetzt meint, Speer habe ihm und Wolf Jobst Siedler "eine Nase gedreht", zeigt er nur, daß sich seine Meinung über Speer nicht wirklich geändert hat, auch nicht nach 1982. Vollends wird dies klar, wenn Fest nun, vollkommen gratis, die als Feststellung formulierte Frage: "Das zeigt ja noch einmal näher, daß Speer die Voraussetzungen des Regimes teilte" (über Speers Lügen) beantwortet: "Natürlich, dafür gibt es viele Belege. Ich habe ihm beispielsweise für seine ,Erinnerungen' auch das Geständnis abgenötigt, daß er 1939 zur Kriegspartei gehörte." Fest fügt ohne Not hinzu: "Deutsche Idealisten sind immer besonders radikal." Den Interviewern ist leider nicht eingefallen, diese absolut inakzeptable Aufnahme Speers in die Rolle deutscher Idealisten zu hinterfragen. Speer war also ein Idealist. Ein unpraktischer Mensch. Besonders radikal. Völlig blind für die gewollten und negativen Folgen seiner Entscheidungen und seines Handelns. Warten wir es ab, ob Fest nicht den Vorschlag macht, Speer möge in die Walhalla einziehen.

Michael S. Cullen, Berlin


Text: F.A.Z., 04.06.2005, Nr. 127 / Seite 9

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Fangen Sie einfach mal damit an!
Hitler und der Nationalsozialismus als Lebensthema: Joachim C. Fest spricht über die politische Bestechlichkeit der Deutschen und den Augenblick der Befreiung

Herr Fest, was haben Sie am 8. Mai 1945 getan?

Ich war in einem amerikanischen Gefangenenlager in Frankreich, habe aber an diesem Tage von der Kapitulation überhaupt nichts mitbekommen. Das passierte erst am nächsten Tag. Da ging ich die Lagerstraße hinunter und sah vor dem Schwarzen Brett eine große Menschentraube, die sich da eingefunden hatte. Da wurde heftig diskutiert, einige lasen laut vor, was da stand über die deutsche Kapitulation. Unter den Gefangenen erhob sich ein Streit über die Frage: Ist es gut, daß wir den Krieg verloren haben und daß das Ganze nun vorüber ist? Dann trat ein salopper, latschiger, etwas älterer Kamerad in die Gruppe und sagte: "Ihr seid alle verrückt geworden, Deutschland gegen die ganze Welt, das konnte doch nicht gutgehen. Seid ihr so blöd, daß ihr das nicht mal im Gefangenenlager begreift?"

Wie lange waren Sie da schon im Gefangenenlager gewesen? Seit wann war für Sie der Krieg zu Ende?

Ich gehöre zur sogenannten Flakhelfergeneration, wurde mit fünfzehn Jahren eingezogen, war dann im Arbeitsdienst, wurde am 1. Juli 1944 zum Militär einberufen und bin am 9. März 1945 bei der berühmten Brücke von Remagen gefangengenommen worden. Meine Einheit war es, die diese Brücke sprengen sollte, wozu es dann nicht kam, weil die Sprengleitungen kaputtgegangen waren und man sie so schnell nicht wiederherstellen konnte - und dann kamen die Amerikaner über die Brücke.

Die Brücke von Remagen ist ein Symbol geworden. Welche Erinnerungen verbinden sich für Sie mit der Nichtsprengung der Brücke?

Keiner von uns wußte eigentlich, wo die Amerikaner standen und wo deutsche Truppen. Man irrte durch die Wälder, grub sich in Einmannlöcher oder Zweimannlöcher ein, ich sogar in einem Zweimannloch zusammen mit meinem Feldwebel, den ich auf den Tod haßte, weil er mich kurz vorher vor ein Kriegsgericht zu bringen versucht hatte, was gescheitert war.

Warum wollte er das?

Weil ich irgendeine harmlose Bemerkung gemacht habe. Ein Leutnant hat mich gerettet, der sagte: "Nach dem Endsieg werden wir den Mann ganz hart herannehmen, aber jetzt brauchen wir ihn noch, damit der Endsieg um so sicherer wird." Und auf solche törichten Parolen ist der Feldwebel natürlich eingestiegen. Also mit dem lag ich da in einem Erdloch. Ich bin am nächsten Tag einen Hang ein Stück weit aufwärts gegangen, auf ein Anwesen zu, und stieß da mit einem amerikanischen Soldaten zusammen, der schon die entsicherte Maschinenpistole in der Hand hatte und sofort schrie: "Hands up!" Ich konnte also gar nichts machen und mußte mich ergeben.

Wann haben Sie vom Tod Adolf Hitlers gehört? Welchen Eindruck hat die Nachricht auf Sie gemacht?

Es hat keinen großen Eindruck auf uns gemacht. Eigentlich merkwürdig, man hätte ja sagen können, nun ist alles vorbei, nun ist also der Urheber des Bösen weg. Hitlers Tod wurde zur Kenntnis genommen.

Wie war damals Ihr persönliches Verhältnis zum Dritten Reich?

Mein Vater war höherer Beamter und wurde von den Nazis, wie das damals hieß, abgebaut, gleich Anfang 1933. Vom Ministerium ist man dann immer wieder gekommen und hat ihn in den Dienst zurückholen wollen. Er nahm aber eher die 182 Mark Pension in Kauf - mit fünf Kindern, Sie können sich vorstellen, was das bedeutete! -, als daß er bereit gewesen wäre, seinen Frieden mit den Nazis zu machen. Meine Mutter dachte praktischer und sagte: "Mein Gott, man kann die eigenen Kinder doch solcher Situation nicht aussetzen." Sie sagte: "Tritt doch in die Partei ein, wir ändern doch deswegen unsere Meinung nicht." Aber mein Vater war da unnachgiebig.

Was war der Grund für die Opposition Ihres Vaters?

Er war Zentrumsabgeordneter gewesen, er war einer der drei Reichsbannerführer im Gebiet Berlin-Brandenburg. Das Reichsbanner war eine Vereinigung aus Gewerkschaftlern, Sozialdemokraten und linkem Zentrum. Es handelte sich um eine halbmilitärische Einheit zur Verteidigung der Wahlveranstaltungen und überhaupt der demokratischen Parteien. Es war eine Organisation, die zwar fast zwei Millionen Mitglieder hatte, aber eigentlich keine wirklich bedeutende Rolle mehr spielte, weil zu viele sehr defätistisch dachten, die hielten das Verhängnis für unabwendbar.

Ihr Vater war in der Opposition zum System. War er auch im Widerstand?

Er hat es immer abgelehnt, von "Widerstand" zu sprechen. Er sagte, mit fünf Kindern kann man nicht im aktiven Widerstand sein. Er hatte vielleicht einen etwas anderen Widerstandsbegriff. Er sagte, Widerstand ist nur, wenn man mit der gezogenen Pistole - dies als Metapher genommen - auf Hitler zugeht und ihn niederschießt.

War bei dieser Familiengeschichte der 8. Mai 1945 für Sie ein Tag der Befreiung oder ein Tag der Niederlage?

Ich halte die Debatte, die jetzt darüber geführt wird, für ganz und gar unsinnig. Ich habe mich nicht befreit gefühlt, das konnte ich nicht, so, wie die Umstände meiner Gefangennahme verliefen und die Gefangenschaft. Wenn Sie in einem Gefangenenlager sind, wo es mitunter sehr hart zugeht, dann fühlen Sie sich nicht befreit - womöglich fehlte mir auch der Überblick. Ich weiß noch genau den Tag, an dem ich mich wirklich befreit fühlte. Ich ging in die Universitätsbuchhandlung in Freiburg zu Herrn Werner, meinem Buchhändler, der mich aus irgendeinem Grunde ins Herz geschlossen hatte, und ich bekam zwei Bücher auf einmal, ein ungeheures Privileg. Das war einmal Thomas Wolfe "Schau heimwärts, Engel" und dann von Ernest Hemingway "In einem anderen Land". Ich ging hinunter zur ehemaligen Adolf-Hitler-Straße, die nun wieder Kaiserstraße hieß, und sagte, mit den beiden Büchern unterm Arm: "Jetzt bist du frei."

Was haben Sie vom Unrecht, vom Terror, von der Vernichtung der Juden als Jugendlicher mitbekommen?

Ich habe nichts mitbekommen. Aber mein Vater, der den Nazis jedes Verbrechen zutraute, hatte diese berühmte BBC-Sendung an Weihnachten 1942 gehört, in der es hieß, daß im Osten die Menschen zu Zehntausenden im Lager umgebracht würden. Die erste Reaktion war ungläubiges Staunen, so hat er mir das nach dem Krieg erzählt.

Das heißt, damals hat er aber nicht darüber gesprochen?

Nein, ich war gerade vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, das ist doch sehr riskant, denn auf ein solches Wissen stand die Todesstrafe. Mein Vater hat sich dann erst gesagt: "Das sind doch wieder die abgehackten Kinderhände aus dem Ersten Weltkrieg. Diese englische Kriegspropaganda tut sich immer durch Übertreibungen hervor, sie lernen es auch nicht, es ist schrecklich." Es ließ ihm keine Ruhe. Ende März 1943 wußte er definitiv, daß das passiert.

Wie hat er gesucht?

Er hatte Widerstandsverbindungen über einen Freundeskreis, hatte Verbindungen auch zu allen möglichen anderen Leuten. Das Kuriose ist, daß die endgültige Gewißheit über einen leitenden Mitarbeiter des Speer-Ministeriums kam.

Können Sie sagen, was er da erfahren hat?

Daß Menschen dort in Massen umgebracht wurden, von mehreren Orten war die Rede.

Von Gaskammern war auch die Rede?

Von Gaskammern war die Rede und auch, daß Menschen in Massen erschossen würden. Es war von allen möglichen Techniken die Rede, und mein Vater sagte: "Was fange ich mit diesem Wissen an?" Es war alles nur noch furchtbarer geworden, und man hoffte noch mehr darauf, daß es bald zu Ende gehen würde. Ich kann noch eine Geschichte dazu erzählen, aus dem Jahr 1943. Unser Grundstück in Karlshorst stieß an das Pfarrgrundstück, und der Pfarrer war ein Freund meines Vaters. Der Pfarrer hat ihm im Herbst 1943 gesagt, in seinem Beichtstuhl sei jetzt jemand aufgetreten, der von grauenhaften Geschichten im Osten erzählte. Das hat sich gehäuft, und bis Ende des Krieges waren es vier, fünf oder sechs Soldaten, die diesem Pfarrer berichtet haben, was sie erlebten, und der hat es meinem Vater erzählt.

Aber von den Konzentrationslagern im Reichsgebiet hat im Grunde jeder Erwachsener gewußt ...

Das wußte jeder. Konnte jedenfalls jeder wissen. Worüber ich mehrfach nach dem Krieg mit Leuten der BBC gesprochen habe: Der Sender hat dieses eine Programm Weihnachten 1942 gebracht und dann nie wieder. Warum?

Warum?

Ich weiß es nicht. Lord Weidenfeld hat mir gesagt, daß dafür der damals auch in England latente Antisemitismus verantwortlich war. Andere sagen, es war Nachlässigkeit.

War das Dritte Reich ein sozialer Staat, der an der Beute die deutschen Volksgenossen teilhaben ließ?

Ich habe immer die These vertreten, der Nationalsozialismus, das Dritte Reich war viel mehr links als rechts. Ich habe einmal in der "taz" darüber geschrieben. Es hat große Empörung ausgelöst.

Also in dem Sinne von "Kraft durch Freude", dem eigentlichen Beginn des Massentourismus?

Dazu der Volkswagen.

Die Ideen von Volkswagen, Volksempfänger, Sozialstaat überhaupt - gehen sie über in die Strukturen der Bundesrepublik?

Nicht vom Nationalsozialismus, das ist älter. Daß der Staat eine Verantwortung für seine Bürger hat, das beginnt bereits im neunzehnten Jahrhundert. Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung hat das zur Grundlage, und da hat die Weimarer Republik mit sehr unzureichenden Mitteln angeknüpft. Aber die Nazis haben das dann ganz groß ausgebaut.

Und mit Kriegsbeute finanziert und damit die Menschen korrumpiert?

Götz Alys These. Ich habe das noch nicht genauer prüfen können. Im Kleinen verhielt es sich so: Man hörte von Nachbarn, die aus Polen mit einem Schinken kamen oder aus Frankreich mit Parfüm für ihre Frauen. Ich denke, die haben auch bezahlt dafür, haben es nicht nur geräubert, aber es ist sicher viel geräubert worden. Aber ich selber habe noch im September 1944 in Holland erlebt, daß Kameraden einem alten Ehepaar, Besitzern eines Papierwarenladens, eine Karte mit gezogener Pistole abnötigten. Die haben das nachher in ihrer Einheit stolz erzählt - und sind sofort vors Kriegsgericht gestellt worden. Auch das gab es.

Was meinen Sie, wenn Sie sagen, der Nationalsozialismus war eher links als rechts?

All das, was an sozialpolitischen Leistungen von den Nazis eingeführt wurde. Es gab ein Programm "Schönheit der Arbeit". Die Fabriken sahen nach Armeleutefabriken aus, und das sollte nicht mehr sein. Da sollten die Wände geweißt werden, und die Toiletten und die hygienischen Vorrichtungen sollten so präsentabel gemacht werden, daß Menschen darin sich auch aufhalten konnten. Und die Menschen haben das dem Regime auch gedankt.

Hat man sich keine Gedanken darüber gemacht, daß mit den Zwangsarbeitern ganz andere Dinge passierten?

Nicht nur die Zwangsarbeiter, sondern das viele Unrecht, das zugleich geschah. Das ist der Vorwurf, den man den Deutschen machen kann, das völlig übersehen zu haben und gesagt zu haben: "Ach, es geht uns doch gut."

Wir wissen, daß Speer fast verzweifelte, weil Hitler den Deutschen so wenig zumuten wollte und bis zuletzt versuchte, ihnen vieles zu ersparen. Ist diese Rücksicht auf die Bevölkerung der Grund dafür, daß es trotz der Bombardierungen nie zu einer Revolte kam?

Eine Revolte konnte es nicht geben. Das war nicht zu organisieren. Die einzigen, die das konnten, waren das Militär und vielleicht die Kirchen. Es gab keine Organisationsbasis, von der aus man ein Widerstandsunternehmen hätte einleiten können.

Es gab die Proteste gegen die Euthanasie.

Ja, auch die Frauen in der Rosenstraße. Nur: Die Proteste gegen die Euthanasie kamen von der Kirche. Und bei der Rosenstraße hat es mal funktioniert. Manchmal denke ich, daß viel zuwenig gewagt wurde, denn das Regime war auch ängstlich.

Warum haben die Kirchen nicht widersprochen, von Widerstand ganz zu schweigen, als sie sahen, daß die Juden aus den Städten verschwanden?

Das ist die Hochhuth-Frage, nicht wahr? Vom Vatikan wird immer wieder behauptet, sie sei befriedigend beantwortet oder so, daß sich jemand, der sehr kritisch eingestellt ist, mit der Antwort abfinden könne. Ich finde, die Antwort ist unbefriedigend.

Wann haben Sie angefangen, sich als Lebensaufgabe mit der Geschichte des Dritten Reiches und vor allem der Geschichte Hitlers zu befassen? Was war Ihr Motiv?

Ich hatte als Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger Jakob Burckhardts "Kulturgeschichte der Renaissance in Italien" gelesen und war begeistert und sagte, das wird mal mein Thema. Dann schnappte ich im Unterricht den Begriff "Privatgelehrter" auf und sagte mir, damit entgehst du allem. Also Privatgelehrter. Man heiratet eine reiche Frau, und dann kann man sich das leisten. Das Leben spielte nachher ganz anders. Ich habe mich für das Dritte Reich überhaupt nicht interessiert. Aber dann wurde ich 1953 beim Rias als Redakteur eingestellt. Am zweiten oder dritten Tag kam der stellvertretende amerikanische Intendant und fragte: "Was machen Sie denn jetzt hier?" Ich war aufgefallen durch Kommentare. Und da sagte ich, ich habe das und das vor - und dann sagte er: "Was ich mir von Ihnen wünsche, ist eine deutsche Geschichte von der Entlassung Bismarcks bis 1945." Ich sagte, ich sei kein gelernter Historiker. Seine Antwort war: "Ach, ein Journalist muß alles können." Dann sagte ich, so im Abgehen, nachdem wir uns nun einig waren: "Na ja, diese acht bis zehn Sendungen werde ich auch noch zustande kriegen." Da sagte er: "Kommen Sie noch einmal zurück, wir haben uns mißverstanden: Ich habe nicht an acht bis zehn Sendungen gedacht, sondern an achtzig bis hundert." Da sagte ich: "Nein, das ist eine Lebensaufgabe." Und dann sagte er: "Ach wissen Sie, fangen Sie einfach mal damit an, und dann sehen Sie weiter." Und ich habe dann "einfach mal angefangen".

Ihr Buch "Das Gesicht des Dritten Reiches", das daraus entstand und von Hannah Arendt zu den Leitwerken über die Epoche gerechnet wurde, hat Ihr Vater noch gelesen, der ja nun die Zeit kannte.

Nein, das hat er nicht mehr gelesen. Er hat nur einzelne Stücke gelesen.

Aber er wußte, daß das Ihr Thema war?

Er kannte diese Sendereihe, und die hatte große Resonanz in Berlin. Ich habe nie im Leben so viel Post bekommen wie auf diese Sendereihe hin, das war wirklich ein öffentliches Gespräch, das nun einsetzte, weil es, glaube ich, auch ein anderer Ton war, ein analytischer Ton statt eines moralisierenden.

Und wie ging es weiter?

Ich habe aus diesen Sendungen ein Buch gemacht, es wurde ein großer Erfolg. Darauf wandte sich ein amerikanischer Verlag an mich und fragte nach einer Hitler-Biographie. Es könne doch nicht sein, daß die einzige ernstzunehmende Hitler-Biographie die von Alan Bullock bliebe. Die Aufschluß vermittelnde Hitler-Biographie müsse von einem Deutschen geschrieben werden. Da habe ich gesagt, ich habe jetzt "Das Gesicht des Dritten Reiches" geschrieben, bin gerade Chefredakteur beim NDR geworden. Ich habe keine Lust mehr, mich schon wieder mit dem Dritten Reich zu beschäftigen. Dann kamen viele Umstände zusammen, und eines Tages bin ich aus dem NDR ausgeschieden und habe dieses Buch begonnen, das Hitler-Buch.

Sie hatten allerdings, als Albert Speer 1966 aus dem Gefängnis entlassen wurde, einen Kronzeugen.

Ich hatte mich gerade entschlossen, dieses Hitler-Buch zu schreiben, da wandte sich Wolf Jobst Siedler an mich, der damalige Leiter der Ullstein-Verlage. Er sagte, Speer ist entlassen worden, ich brauche einen vernehmenden Lektor, jemanden, der ihn auf die richtigen Themen führt und ihm die richtigen Fragen stellt.

Einen "vernehmenden Lektor"?

Ja, Siedler wollte von vornherein etwas sehr Ehrgeiziges, das definitive Memoirenbuch über das Dritte Reich. Ich sah hier die Chance: Wenn ich das Hitler-Buch schreibe, dann habe ich einen Zeugen, der glaubwürdig wirkt. Nach ein bis zwei Gesprächen mit Speer hatte ich den Eindruck, bei ihm kann man fündig werden.

Wie war die erste Begegnung?

Er kam den Gartenweg zu meiner Hamburger Wohnung herauf, schlenkernd mit einer verbeulten Aktentasche, und wirkte so zivilistisch, wie man nur wirken kann. Ich fragte mich: Der Mann war vor fünfundzwanzig Jahren der Wirtschaftsdiktator Europas, unglaublich, kann er nicht gewesen sein.

Sie haben alle wichtigen Zeugen kennengelernt, die im Dritten Reich eine Rolle gespielt hatten und noch lebten. Haben Sie einen Schlüssel für das Rätsel, das Charisma, die Persönlichkeit Hitlers?

Ich habe darüber zwölfhundert Seiten geschrieben, und auf zwölfhundert Seiten kann ich Ihnen das annäherungsweise erklären. Aber eine Formel dafür habe ich nicht.

Darf ich eine Frage zurückgeben, die Sie in der Biographie selber gestellt haben: Kann man Hitler groß nennen?

Nein. Er ist vielleicht der größte Kulturbruch, der sich in der europäischen Geschichte ereignet hat. Dazu gehört, daß er nicht nur Völker vernichtet hat, Länder, Städte, sondern auch die Welt der Begriffe unterminiert hat. Der Begriff der historischen Größe ist definiert bei Jakob Burckhardt in den "Weltgeschichtlichen Betrachtungen". Schließlich sagt er, zu einer wirklichen Größe gehöre ein Gran Güte. Dieses Gran Güte ist bei Hitler total abwesend.

Sie haben einmal die Frage gestellt, ob die Vernunft im Nachkriegsdeutschland nur ein Reflex vernünftiger Verhältnisse gewesen sei, und daran die Überlegung angeschlossen, ob unter neuen Umständen auch eine große neue Irrationalität eintreten kann.

Das ist durchaus möglich, die müßte dann aber europaweit sein. Die kann nicht mehr auf ein einzelnes Land begrenzt sein.

Sind der Nationalsozialismus und der Holocaust also keine historischen Singularitäten?

Nein, das würde ich niemals sagen. Ich weiß, das ist der Historikerstreit, den Sie ansprechen, aber Singuläres gibt es nicht, oder alles ist singulär.

Für uns Deutsche singulär.

Für uns Deutsche ist es natürlich singulär. Aber es ist in der Welt und in der Geschichte überhaupt nicht singulär, was im Holocaust geschehen ist. Wie hoch ist der Anteil der Menschen, die Pol Pot umgebracht hat? Wie viele hat Stalin umgebracht? Die Zahlen gehen weit über die der Opfer Hitlers hinaus. Dennoch würde ich sagen, das Entsetzen, das Hitlers Taten ausgelöst haben, geht für uns als Deutsche jedenfalls sehr viel tiefer als das, was Stalin oder Pol Pot oder die vielen Mörder von Idi Amin bis zu sonstwem angerichtet haben. Jeder kehre da vor seiner Tür. Vor der deutschen Tür ist Hitler, und der wird da noch lange bleiben.

Das Gespräch führten Stefan Aust und Frank Schirrmacher.


Text: F.A.Z., 04.06.2005, Nr. 127 / Seite 38

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Bekannte Quelle
So viel forschen kann die Geschichtswissenschaft offensichtlich gar nicht, als daß Albert Speers selbstgestrickter und wirksam inszenierter Mythos um seine Person nicht unablässig von neuem entstünde. Fast scheint es, als gebe es ein öffentliches Bedürfnis danach, die Legende um den vermeintlich politisch Verführten periodisch aufleben zu lassen. Daß das angebliche Rätsel Speer aber keines ist, hat Matthias Schmidt schon 1982 in seiner Studie mit dem Untertitel "Das Ende eines Mythos" eindrucksvoll gezeigt. Es ist seither hinlänglich bekannt, daß Speer ein Massenverbrecher war: Als Rüstungsminister hat er den Arbeitseinsatz der ausländischen Zwangsarbeiter und der KZ-Häftlinge in der deutschen Kriegswirtschaft geleitet und war für den Bau der Konzentrationslager zuständig - auch für die ständige Erweiterung von Auschwitz. Nicht Speer also ist das Rätsel, sondern Ihre Zeitung: "Speer wußte von Auschwitz" ist Ihnen eine Meldung auf Seite eins wert (F.A.Z. vom 10. Mai), gleich daneben weiß Frank Schirrmacher von angeblich neuen, im Zuge von Recherchen zu Heinrich Breloers filmischem Speer-Porträt aufgefundenen Dokumenten zu berichten, und das "ungeheuerlichste" davon, so Schirrmacher, drucken Sie mindestens in Originalgröße auch gleich im Feuilleton ab.

Wenig seriös und sehr befremdlich ist solch ein Umgang mit der Geschichte von Auschwitz. Dabei ist nicht nur die Nachricht keine Neuigkeit, auch die Quelle ist keine. Das sensationell präsentierte (im Aktenbestand der Zentralbauleitung der Waffen-SS von Auschwitz überlieferte) Protokoll der Besprechung, die am 21. Mai 1943 im Lager Auschwitz stattgefunden hat und an der zwölf Personen, darunter zwei Vertreter von Speers Ministerium für Bewaffnung und Munition, teilgenommen haben, zitiere ich in meinem Buch ",Musterstadt' Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Oberschlesien".

Dr. Sybille Steinbacher,

Cambridge, Massachusetts


Text: F.A.Z., 11.06.2005, Nr. 133 / Seite 25

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