Dienstag, 20. Mai 2008
Synapsein

Was schert mich der
Weltuntergang wenn wir
Beisammen sind fahren
Rosen über die Meere.
(Sarah Kirsch, aus: "Schwanenliebe")


Es gibt zwar seit einigen Jahrzehnten den beherrschenden Bildbegriff von Netz und Netzwerk, der inzwischen fast die ganze Lebenswelt umfaßt, gleich ob es sich um Kriminalität oder Sport, die Börse oder Botanik handelt. Jeder Bereich ist in sich und alle sind miteinander vernetzt. Man darf sogar sagen: nie zuvor gab es ein derart allzweckhaftes Instrument und Erkenntnismodul in einem...Ja, es scheint unmöglich, ohne vom Netz zu sprechen, irgend etwas über die Tätigkeit, sei es unseres Hirns, sei es einer Terrorgruppe, herauszufinden...

Wären wir noch zur Verwirrung zu bringen, so müßte uns der Schwindel ergreifen angesichts jener - der Phantasie eines Paranoikers nicht nachstehenden - Totalität des Zusammenhängenden: Alles miteinander vernetzt!...
Eine Metapher für das Netz aber ließe sich nur schwerlich finden. Wir könnten die Spinne zum Wappentier unseres Gegenwartsbewußtseins erwählen. Und das, worin wir nun leben, woran wir wirken, könnten wir etwas hochtrabend eine Arachnotopie nennen...
Allzu leicht geht's mit der Allegorie - aber mit dem Symbol leider nicht...
Denn das Gebilde, das uns bildet, bewegt sich ohne ein endgültiges Ziel und ohne jede kausale Folgerichtigkeit...Alles was wir wissen, auch das Wissen der Vergangenheit, ordnen wir jetzt mit Hilfe unseres neu erworbenen Organs, das noch keinen Namen trägt, unseres Netz-Gespürs jedenfalls. So kommt es, daß kein einziger mehr außerhalb eines Netzwerks denkt und lebt. Es bleibt in ihm und um ihn herum nichts unverwoben...Kennen und erkennen nichts über die Verknüpfung hinaus. Synapsein wäre daher das umfassende Tätigkeits- und Erduldungswort, das sich uns anbietet. Wir leben unser Bewußtsein.


(aus: Botho Strauß, "Die Unbeholfenen - Bewußtseinsnovelle", S. 70-73)





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Der Spinne zum Fraß
♪ ♫Diese Platte hören Sie:

Goldfrapp, Seventh Tree
♪ ♫Und dieses Lied
single repeat
:
Coldplay, Talk

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